Wissenschaft
des Judentums und Reformation
Eine Gesprächsanregung
von Dieter Adelmann
Wachtberg, 16. März
2000
These
In den "Grammatisch-kritischen Anmerkungen über einige Dichter" in Lessings Nachlass gibt es eine Bemerkung "Über das Plattdeutsche", in der etwas von Lessings Auffassung der Reformation deutlich wird. "Die Niedersachsen haben sehr Unrecht", schreibt Lessing da, "wenn sie für die Verdrängung ihrer Mundart der Reformation Schuld geben. Die Reformation war die Veranlassung, aber die Schuld ist lediglich ihr eigen. Denn thaten die ersten Wiederhersteller der Religion das geringste mit Vorsatz, was der Obersächsischen Mundart das Übergewicht hätte geben sollen?" - In der Folge zählt Lessing eine Reihe niederdeutscher Bibelübersetzungen auf, die der Lutherischen vorausgegangen waren, und woraus sich schliessen lasse, dass es die Niedersachsen selber gewesen sein müssen, die der Obersächsischen Mundart den Vorzug gegeben haben.
Der Gedanke gehört in den Bereich von Lessings Beitrag zur Geschichte der Sprachforschung und ist hier so nicht wichtig; aber interessant ist, dass Lessing an dieser Stelle nebenbei und als selbstverständlich die Reformatoren als "Wiederhersteller der Religion" bezeichnet. Das ist deshalb interessant, weil es sich um eine parallele Formulierung zu der "Wiederherstellung" der Wissenschaften handelt, als die üblicherweise die spezifische Leistung der Renaissance aufgefasst wird. Wenn sich nun Hermann Cohen, wie oft genug geschieht, emphatisch zur Reformation bekennt, wie er sich zu der Wiederherstellung der Wissenschaft bekannt hat, so könnte es durchaus sein, dass er gerade diese Bedeutung des Begriffes, die Lessing als selbstverständlich unterstellt, im Sinn hat. Und um den Versuch einer "Wiederherstellung der Religion" würde es sich dann auch bei dem usprünglichen Sinn für den Begriff der "Wissenschaft des Judentums" gehandelt haben können.
Vielleicht täusche ich mich; aber ich finde nicht, dass die "Wissenschaft des Judentums" in diesem Sinn erforscht worden wäre. Die Frage aber ist wichtig, denn in dem geschichtlich-kulturellen Umfeld, in dem der Begriff für die "Wissenschaft des Judentums" entwickelt worden ist, lief alles darauf hinaus, entweder im Sinne der Hegel'schen Spekulation oder im Sinne der "emprischen" (Natur-) Wissenschaft, den kulturellen Zusammenhang von der Kultur der Religion zu lösen. Diesen Gesamtprozess hat Karl Loewith mehrfach und ausfuehrlich beschrieben, in: Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1967, und zuvor in: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Marx und Kierkgaard, zuerst Zürich, Europa Verlag, 1941, (auch der Gedanke in: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, zuerst Stuttgart: Kohlhammer, 1953, ist darauf aufgebaut), jeweils um zu zeigen, dass aus der klassischen Triade der Themen für die Philosophie, "Gott, Mensch und Welt", das Thema "Gott" herausfällt; mit andern Worten, dass sich Problem und Voraussetzung der Religion in der Philosophie auflösen. Die Themen "Mensch" und "Welt" fallen zusammen; und sei es denn bis hin zu einer naturalistisch empirischen, biologistischen, wenn nicht geradezu zoologischen "Anthropologie".Daran gemessen wuerde sich die "Wissenschaft des Judentums" gerade nicht assimilatorisch verhalten haben, insofern gerade sie die Methode hätte sein sollen, um Religion zu erzeugen, und zwar gerade unabhängig von den Problemen bei der Erscheinung der Auflösung der "christlichen Metaphysik", die Karl Loewith beschrieben hat. Das Ergebnis würde nicht christlich sein, also insofern sich kulturkritisch verhalten können; aber doch etwas ganz anderes zu bedeuten haben, als, z.B., die Kulturkritik von Friedrich Nietzsche.
So gesehen würde die "Wissenschaft des Judentums" ursprünglich zur relgionsgeschichtlichen und philosophischen Gegengeschichte ("Counterhistory") im 19. Jahrhundert. Und als solche würde sie zu dem geschichtlichen Rahmen gehören, in dem die Darstellungen der Philosophie, die Hermann Cohen gegeben hat, ihren Ort hat. Der Bedeutungswandel, den die Wörter "Wissenschaft" und "Judentum" und deren Bedeutung für die "Religion", und das Wort "Reformation" und das Wort "Religion" selbst, in der Zwischenzeit durchlaufen haben, macht vielleicht einen der Gründe für die philologischen Schwierigkeiten aus, die wir haben, wenn wir uns darum bemühen, Hermann Cohen von heute aus, und zwar wirklich von Grund auf, zu verstehen.
Das Ausmass für den Bedeutungswandel der Wörter, die wir verwenden, machen wir uns vielleicht nicht immer ganz klar. Um deshalb auf Lessings Philologie der Alltagssprache zurückzukommen: Der Ausdruck "gepfeffert", schreibt er in einem Fragment "Vergleichung Deutscher Woerter und Redensarten mit fremden", werde verwendet, um etwas zu bezeichnen, "was sehr theuer ist". Die Franzosen hätten auch einen sprichwortlichen Ausdruck: cher comme poivre. "Beyde Ausdrücke", fährt er dann fort, "schreiben sich ohne Zweifel noch aus den Zeiten her, da der Pfeffer ungleich theurer war, als er jetzt ist." Wer hätte das gedacht? Denn wir denken doch an die Schärfe des Geschmackes, wenn wir sagen, etwas sei "gepfeffert und gesalzen". Das Salz war eben auch sehr teuer. Jene Anschauung ist in der Zwischenzeit verschwunden, aber die Redensart ist geblieben und überliefert worden und wird heute noch verwendet. Nur der Sinn der Woerter ist ein anderer geworden. Die Anschauungen in den Wörtern der Bildungssprache der deutschen Klassik, in die hinein Hermann Cohen aufgewachsen ist, sind uns aber heute genauso fremd wie die Gedanken der jüdischen Bildungswelt, in der Hermann Cohen aufgewachsen ist: beide kennen wir nicht. Deshalb sind die Wechselwirkungen so schwer zu verstehen, in die jüdische Bildungswelt und deutsche Klassik in der Philosophie von Hermann Cohen eingegangen sind.
[Zitate aus : Gotthold Ephraim Lessings sämmtliche Schriften, herausgegeben von Karl Lachmann. Neue rechtmässige Ausgabe. Berlin, in der Voss'schen Buchhandlung, 1839. Elfter Band. Lessings literarischer Nachlass, S. 648 u. 656]
Dr. Dieter Adelmann
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