20th World Congress of Philosophy Logo

Moral Psychology

Vernunft und Terror:
Zur Postmodernen Lektüre von Freud

Yvanka Raynova
A7450066@unet.univie.ac.at

bluered.gif (1041 bytes)

ABSTRACT: Die kritische Auseinandersetzung mit der Freudschen Psychoanalyse, die zuerst von Foucault und dann von Deleuze, Guattari, Lyotard und Baudrillard unternommen wurde, versucht den Mechanismus der 'bürgerlichen Repressiontätigkeit,' die die europäische Menschheit unter dem Joch der Familieninstitution hält, (1) zu enthüllen und den Terror einer erdachten und simulativen Moral, in der Freud und seine Anhänger unwillkürlich einbezogen sind, blob zu stellen. Damit zeigt die postmoderne Lektüre von Freud, dab nur die Befreiung von diesem durch Terror-verderbten Bewubtsein im Stande wäre die wirkliche revolutionäre Kraft der psychoanalytischen Kritik der Vernunft hervorbringen und die Bedeutung ihrer zwei epochalen Erfindungen-die direkte Konfrontation zwischen den Triebproduktionen und der Repression, die die Gesellschaftsmaschine auf der Triebmaschine ausübt, und die dadurch folgende Verdrängung-zurück zu gewinnen.

bluered.gif (1041 bytes)

Ohne Zweifel ist Deleuzes, Guattaris, Lyotards und Beaudrillards postmoderne Interpretation der Freudschen Psychoanalyse nur eine der möglichen Interpretationen, deren Adequation und Kritik diskutierbar sind. Für Autoren wie Antoine Griset ist diese kritische Interpretation "fragmentar" und in diesem Sinne beschränkt. (2) Ich würde sie vielmehr als "symptomatisch" charakterisieren. Symptomatisch für das Ende einer ganzen Epoche in Wissenschaft und in Philosophie, die mehrdeutig la fin des grands récits genannt wurde; einer Epoche, welche sowohl das Ende des Vertrauens in die Theorien, wie auch in die Lügen und ihre Legitimationen ankündigte.

Der Trieb und die Kritik der Vernunft

"Marxisme et psychanalyse sont en crise. Il faut téléscoper et précipiter leur crise respective plutôt que de les épauler l'un par l'autre. Ils peuvent se faire réciproquement encore beaucoup de mal. Il ne faut pas se priver de ce spectacle. Ce ne sont que deux chaps critiques". (3) Dieser Appell Jean Baudrillards zeigt zum großen Teil die Bedeutung der Psychoanalyse für die postmodernen Denker, abgesehen von ihren verschiedenen Standpunkten - die Psychoanalyse und der Marxismus sind nur eine neue Art der Kritik an der Vernunft, die selbst einer kritischen Auslegung unterliegt.

Wenn ich das Wesentliche dieser zweideutigen Interpretation kurz formulieren sollte, dann würde ich unterstreichen, daß sie sich auf eine zweifache Weise manifestiert. Einerseits, erscheint es in der rückhaltslosen Annahme der These, daß der Grund jedes Erkennens der Trieb ist und andererseits, in der Ablehnung des ödipalen Komplexes als Verhüllung des wahren Grundes des Unbewußten, als Begrenzung der revolutionären Kraft des Triebes im System der Familienverhältnisse, welches das Verständnis und das Freilassen des produktiven Prozesses der Schizophrenie hemmt.

Bevor wir sehen was diese zwei eng verbundenen Momente der postmodernen Rezeption der Freudschen Psychoanalyse konkreter voraussetzen, muß ich hervorheben, daß trotz Baudrillards Appell "Vergessen wir Foucault" ("Oublier Foucault") die postmoderne Freudlektüre in vielen Hinsichten gerade dem Autor der Histoire de la folie und Histoire de la sexualité verpflichtet ist. Mit seiner Kritik der rationalistischen Formel cogito ergo sum zeigte Foucault, daß sie irrelevant ist für die gegenwärtige Lage, wo das Denken nicht mehr eine allgemeine Form des konkreten Daseins ist, sondern Emanation streng individueller Erscheinungen, die das Universale zerstreuen und sich am öftesten als seine Abschweifung charakterisieren. Die Unmöglichkeit, den Menschen aus dem Denken abzuleiten, beweist nach Foucault nicht nur den Krach der modernen Philosophie, sondern auch etwas viel Fundamentaleres - die Änderung der gegenwärtigen Situation, die sich in einer Begrenzung des Normalen vom Pathologischen ausdrückt. (4) Im psychoanalytischen Kontext ist diese Ansicht in Frankreich besonders von Autoren wie Lacan entwickelt worden, der feststellte, daß "L'être de l'homme non seulement ne peut être compris sans la folie, mais il ne serait pas l'être de l'homme s'il ne portait en lui la folie comme la limite de sa liberté". (5)

Unabhängig von den differenzierten Standpunkten zum Wahnsinn, wie auch der Tatsache, daß die postmoderne Interpretation der Psychoanalyse eine gewisse Reaktion gegen die zur Zeit verbreiteten Ideen Lacans war, besteht kein Zweifel, daß Deleuze, Guattari, Lyotard und Baudrillard die psychoanalytische Kritik der Vernunft, die den unbewußten Grund des Bewußtseins feststellte, als ein wirksames Mittel der Dekonstruktion des cartesianischen Cogito, wie auch der Irrtümer der Psychoanalyse, annahmen. Mit einem Unterschied - wenn Baudrillard die Existenz des Unbewußten in den primitiven Gemeinschaften ablehnt, (6) so versuchen Denker wie Lyotard es zu retten, indem sie die Existenz der primitiven Gemeinschaften ablehnen. (7) In diesem Sinne besteht der Hauptunterschied zwischen der psychoanalytischen und der postmodernen Dekonstruktion der Vernunft ine der Art und Weise wie man das Unbewußte selbst interpretiert.

Die große Entdeckung der Psychoanalyse ist, nach Deleuze und Guattari, die Entdeckung der produktiven Kraft der Triebe, der Produktionen des Unbewußten. Aber mit dem Ödipuskomplex wurde diese Entdeckung von einem neuen Idealismus verschleiert - das Unbewußte als Fabrik wurde durch das antike Theater ersetzt; die produktiven Einheiten des Unbewußten wurden von der Vorstellung ersetzt; das erzeugende Unbewußte wurde von einem anderen ersetzt, das unbedingt eine Form annehmen sollte (die des Mythos, der Tragödie, des Traumes u.s.w.). (8) Daß das Unbewußte nicht Theater, sondern "Fabrik" ist, heißt, daß es nicht einfach ein Spielplatz und ein Spiel ist, daß es nicht Vor-stellung oder Figuration ist und auch nicht nur ein Teil einer vorher und unbedingt gegebenen Struktur, die auch so unbedingt dem Ödipuskomplex unterworfen ist.

Diese von Deleuze und Guattari unternommene Kritik am Freud-Lakanschen Unbewußten könnte man in drei hauptsächliche Richtungen einteilen:

1) das Unbewußte ist nicht Es (Id), sondern Maschine;

2) das Unbewußte soll nicht auf idealistische, sondern auf materialistische Weise verstanden werden;

3) das Unbewußte ist nicht unbedingt mit dem Ödipuskomplex verbunden.

Sehen wir uns jetzt näher die Gründe dieser bedeutenden Revision des Unbewußten.

Die Annahme, daß der Mensch und die Gesellschaft Maschinenform und Maschinenfunktionen besitzen, umfaßt die Hauptthese von Deleuze und Guattari und steht nicht zufälligerweise am Beginn des Anti-Ödipus - kurz, es ist ein Irrtum von dem Es zu sprechen. Überall sind es nur Maschinen und das nicht nur metaphorisch gesagt - Maschinen von Maschinen mit ihren Kupplungen und Verbindungen. Eine Organ-Maschine ist in einer Ursprung-Maschine eingeschaltet - von der Einen springt ein Fluß hervor, der die Andere beschränkt. Der Busen ist eine Maschine, die Milch erzeugt und der Mund ein Maschine, die an ihm haftet. Der Mund des schlechten Essers zögert zwischen der Ernährungs-, der Anal-, der Sprach- und der Atmungsmaschine (bei einer Asthmakrise). So sind wir alle nur zufällige Handwerker, jeder mit seinen eigenen Maschinen. (9) Mit anderen Worten, die Maschinen, die von den Trieben in Bewegung gesetzt und ernährt werden, sind immer binär - jede ist mit einer Anderen verbunden und für eine Andere bestimmt, so daß die Produktionssynthese sich immer in der Form des "und", "und danach..." verwirklicht. Die Synthese, die die Produktion reguliert und sie möglich macht, erscheint in drei Arten. Die erste ist die verbindende, die noch "Produktion von Produktion" genannt wird. Sie bewegt sich nach dem Schema "Produktion - Produkt", "Ununterbrochen-Unterbrochen", "Leben-Tod", "Unorganisiertes-Organisiertes" u.s.w. Die zweite ist die disjunktive, anders genannt "Produktion einer Inschrift" oder Numen, und stellt eine Kraftumwandlung dar, die den Trieb in verschiedene Richtungen einschreibt. Die dritte Synthese ist die konjunktive, die auch "Produktion von Konsummation", oder Voluptas genannt wird. Sie ist mit der Wollust, dem Streben nach Sinnenlust und der Sublimation der Triebe verbunden.

Diese Kraftstheorie des Unbewußten als Maschine der Triebe, die gewisse "intensive Quantitäten" erzeugt, wie z. B. "Anziehen - Abstoßen", welche die universale Lage des Deliriums bewirken, führt zur Überzeugung, daß die Schizoproduktion der natürliche Menschenzustand sei. Deswegen soll das Unbewußte auf materialistische Weise behandelt werden und nicht auf idealistische, representationistische oder linguistische. Dafür soll es nicht mehr als Phantasmenmechanismus, der verschiedene partiale Objekte vollbringt, interpretiert werden, wie es Melanie Klein tut, auch nicht als strukturiertes Analogon der Sprache, wie es Lacan vorschlägt, sondern nach der Art der Marxischen Politökonomie, die auf der Identität Natur = Industrie, Natur = Geschichte beruht. Das menschliche Wesen der Natur, unterstreichen Deleuze und Guattari, und das natürliche Wesen des Menschen finden ihre Identität in der Natur als Produktion, oder Industrie, daß heißt auch im Leben des Menschengeschlechts. Die Produktion als Prozeß übertrifft alle ideellen Kategorien und formt ein Zyklus, der zum Trieb als immanentes Prinzip führt. (10)

Gerade hier stellt sich die dritte große Frage, bei der die französischen Postmodernisten von den Psychoanalytikern Abstand nehmen - die Frage ob sich die libidinale Kraft unbedingt durch das ödipale Familiendreieck "Papa-Mamma-Ich" vollzieht.

Eigentlich besitzen gerade die partialen Objekte, die nicht Phantasmen, sondern Wirkungen der Produktion der Triebmaschinen sind, genug Kraft um die Ödipustheorie zu sprengen. Indem Deleuze und Guattari den vorödipalen und ödipalen Charakter der Triebsproduktion abstreiten, zeigen sie, daß diese "absolut nicht-ödipal" ist, da das Unbewußte die Personen und das Persönliche völlig ignoriert. Die partialen Objekte sind nicht figurative, symbolische Stellvertreter der Eltern oder der Elternbeziehungen. Obwohl das Kind immer in der Umgebung der Eltern lebt und alles, das es hat von ihnen stammt, sind die partialen Objekte, die es umfangen nicht Bilder der Eltern. Der Zug ist nicht der Vater und die Empfangsstation - die Mutter, wie Melanie Klein in ihren Psychoanalytischen Essays behauptet, sondern wirkende Kräfte der Produktion, beziehungsweise der Anti-produktion. Von früh an lebt das Kind von Trieben erfüllt, indem es eine Menge nichtfamilialer Beziehungen unterhält. Aber wenn man das Kinderleben auf den Ödipuskomplex beschränkt und die Familienbeziehungen als einen universalen Vermittler der Kindheit ansieht, dann nimmt der Mensch die Position des Unwissens im Bezug zur Produktion des Unbewußten selbst und zu den kollektiven Mechanismen ein, die ihn unmittelbar angehen, und insbesondere im Bezug zum ganzen Spiel der originellen Verdrängung der Triebsmaschinen und des unorganischen Körpers. Und das ist so weil das Unbewußte ein Waise ist, der sich in der Identität zwischen Natur und Mensch produziert. (11) Das Unbewußte ist nicht persönlich und auch nicht strukturell, es symbolisiert nicht, es stellt weder imagintiv, noch figurativ vor - es wirkt produktiv, weil es maschinisch ist. (12)

Von diesem Standpunkt aus unternehmen Deleuze und Guattari ihre Dekonstruktion des Ödipuskomplexes, die seine repressive Rolle enthüllt. Wenn der Ödipuskomplex nicht ursprünglich und universal ist, ist er sekundär und lokal. Das bedeutet nicht, daß der Ödipuskomplex und die Kastrtion nicht existieren, sondern nur, daß man uns das Ödipale einprägt und daß wir kastriert werden. Mit anderen Worten, die repressiven Kräfte der sozialen Maschine verursachen die Schizophrenie. Deleuze und Guattari unterstreichen sogar, daß der Kapitalismus in der Schizophrenie seine Grenze findet, die er als absolut äußerlich anerkennt und sie damit in die soziale Produktion in der Form der Familienreproduktion interiorisiert. Als Reich der Bilder, der Simulakren, benützt der Kapitalismus die Schizobilder um den generativen Fluß zu beschränken und bestimmt somit die sozialen Rollen. So wird im Kapitalismus Ödipus eine Zusammenfassung der drei sozialen Ordnungen oder Maschinen: er wird in der territorialen Maschine als leere, unbesetzte Grenze vorbereitet. Er bildet sich in der despotischen Maschine als symbolisch besetzte Grenze. Aber er vollbringt sich nur wenn er sich in den imaginären Ödipus der kapitalistischen Maschine verwandelt. Die despotische Maschine behielt ihre primitiven Gebiete, hingegen erweckt die kapitalistischen Maschine den Urstaat als einen der Pole seiner Axiomatik wieder, indem er den Despoten in eines seiner eigenen Bilder verwandelt. Somit impliziert Ödipus alles in sich als Resultat der Weltgeschichte, aber in diesem besonderen Sinn, in dem der Kapitalismus selbst existiert. In ihm ist die ganze Reihe von Fetischen, Idolen, Bildern und Simulakren konzentriert. (13)

Auf diese Weise ist der Urgrund der Kraft in den streng verordneten Verantwortlichkeiten, Schulden und Strafen gefangen, die die Freudsche Psychoanalyse mit der Einführung des "Familienkomplexes" und der Selbstbestrafung des Ödipus eigentlich reproduziert.

Die Kritik der Vernunft und der Faschismus

Die Wiederherstellung der Rechte des Triebes wurde von den Kritikern des Postmodernismus vom Anfang an als Wiederherstellung des Kultus der irrationalen Dyonisischen Kräften und somit der Barbarei und des Faschismus verurteilt. Auf solche Angriffe antworteten Apologeten wie Dominique Grisoni mit Recht, daß die positive Theorie des Triebes die Gewalt ausschließt, da sie die programmierte Geographie des Realen durch eine unbefangene Geographie ohne Landkarte ersetzt. (14) Aber diese Theorie verdient eine gründlichere Untersuchung, da sie zum Fundament der radikalen Reinterpretation der Psychoanalyse als einer möglichen Gesellschaftskritik wurde.

Eigentlich liegt der große Unterschied zwischen Freuds Auffassung des Triebes und derjenigen der Postmodernisten nicht sosehr in der Tatsache, daß die erste den Trieb als Mangel ansieht, und die zweite - als Fülle, wie Grisoni es zu beweisen scheint. (15) Freud zeigt offensichtlich, daß nicht das Sein mangelt, sondern das es dem Unbewußten an Lust mangelt. Da das Unbewußte seinen Trieb nicht erfüllen kann, entflieht es in eine phantasmische, symbolische Befriedigung. Auf diese Weise verwandelt es sich in Theater von Schatten, die geheim die verbotene Handlungen und Situationen nachahmen. Von da erklärt sich die doppelte Bedeutung des Triebes bei Freud - von einer Seite wird er als amoralisch und zerstörerisch verurteilt, von der anderen aber wird er als positive Wirkungskraft der Reproduktion und des Lebens erfaßt. Gerade in dieser Teilung der Triebe als "gute" und "schlechte" sehen die französischen Postmodernisten den hauptsächlichen Fehler der Psychoanalyse, der sie de facto in einen Legitimator der bürgerlichen Moral, der Zensur und der repressiven sozialen Institutionen verwandelt.

Wie verschieden auch die Auffassungen von Deleuze und Lyotard über den Trieb sein mögen, so sehen sie Beide in seiner produktiven Kraft die differierende und differenzierende Fähigkeit, deren Revolutionscharakter sich in der Destabilisierung und Auflösung der sozialen Simulakren ausdrückt. Aber mit der Libidinalen Ökonomie geht Lyotard noch einen Schritt weiter, indem er zeigt, daß der Trieb, die Leidenschaften und die Begierde nicht nur in den Individuen existieren, sondern auch der Grund sozialer Instanzen, wie Politik und Ökonomie, sind. In diesem Sinne muß man von neuem die Kritik der Religion und die Zerstörung der Frömmigkeit beginnen. Das bedingt die Wiedereinführung der Null in die Ökonomie des Triebes, das heißt des Negativen, und die Wiedereinführung der politischen Ökonomie in die Leidenschaften. Diese Ökonomie des Kapitals ist eine Weiterführung der Frömmigkeit, eine Verbreitung der Begierden und Triebe der Religiosität, identifiziert als Macht des Mangels, so daß die kapitalistische Religiosität sich selbst erfaßt als causa sui. "Politik treiben" heißt in diesem Sinne das Ende der Macht des Mangels wollen, den Willen haben, daß alles, das diese Null bewährt, sich nicht nur nicht mehr selbst erfaßt, sondern, daß es auch nicht von einer anderen Macht erfaßt wird und insbesondere, daß die Fragen der Autoimplikation verhindert werden, da sie von vornherein in sich das Wissen und die "Antworten" tragen. Deshalb versucht Lyotard eine differenzierte Politik zu verwirklichen, die ohne Berechnung und "gottlos" für die Politiker ist. (16) Aber was bedeutet das genauer?

Vor allem, daß der Trieb oder der libidinale Grund primär ist, da das Denken auch libidinal ist (oder wie er es später nennen wird - "eine Wolke", "un nuage" (17) ) und daß der Begriff als Abstraktion - Negativität, Null, Quadrat - etwas sekundäres, lokales und nicht universales ist. Noch mehr. Er ist die repressive Aufdrängung einer gewissen Ordnung, die sich mit der Notwendigkeit, der Unordnung ein Ende zu machen, legitimiert. Deshalb ist die Kritik des Begriffes vorallem die Kritik an einer besonderen Politik - Kritik der "radikal-sozialistischen" Politik, d. h. des Nazismus, des Faschismus und des Kommunismus, die auf dem Begriff beruhen, daß das Unreine zu "reinigen", zu beseitigen, zu kastrieren und zu vernichten ist. Das ist offensichtlich das Verhältnis zwischen der Abstraktionen und dem Holokaust, zwischen den Ideologien und den Konzentrationslagern, auf das Lyotard anspielt. Die Libidinale Ökonomie, die er später "mein böses Buch" (18) nennen wird, ist ein Zersprengen der abstrakten Begriffe, nicht so sehr weil sie nicht die Instinkte und die Triebe erklären können, auch nicht weil sie zur Kastration und Depersonalisation von allem Intimen führen, sondern vielmehr wegen des Terrors und der Gewalt, die sie notwendigerweise in Anwendung bringen. In diesem Sinne heißt "den Trieb freilassen" die Politik des Terrors zu bekämpfen und ihre hauptsächliche Ideologeme, daß "die Macht-Idee der Faschismus sei", bloß zu stellen. Anders gesagt heißt es den feinen Unterschied zwischen Macht und Gewalt zu enthüllen. (19) Doch das, was Lyotard hier unterschätzt hat nach seinen eigenen Zeugnissen, ist die Tatsache, daß das Freilassen des Triebes auch zur Gewaltanwendung führen kann und nicht unbedingt zum kreativen Umbau der Welt. Deshalb wird er später in Das Postmoderne Wissen (1979), Der Widerstreit (1983) und besonders in seine Postmoderne Moralien (1993) die Kritik des Begriffes mit der Delegitimation und der Moral der Gerechtigkeit in Zusammenhang bringen.

Die Ablehnung der "großen Fabel" ("grand récit"), die zur neuen Parole des Postmodernismus wird, heißt in diesem Sinne die Ablehnung, das Wissen im Dienst der Gewalt zu stellen, die Ablehnung der einen und einzigen Wahrheit, der einen und einzigen Moral und Gerechtigkeit. In einem positiven Plan heißt das, das Prinzip der Heterogenität gegen das Prinzip der Unifikation aufzunehmen. Von da an fängt auch die große Diskussion zwischen Lyotard und den Anhängern der kommunikativen Praxis an, gegen die er beweisen will, daß das Streben nach Konsensus durch den Dialog der Argumentationen (Diskurs), von neuem zu Terror und zum Aufzwingen einer Denkweise über eine andere, die dieser unterliegt, führt. Für Lyotard gibt es nur einen Ausweg aus dem Terror - die Gerechtigkeit in der Moral zu gründen, das heißt die Differenzen anzuerkennen und nicht zu versuchen, sie in einer angeblich gemeinsamen oder allgemeinen Position, die der Illusion der isomorphischen Sprachspiele unterliegt, zu "versöhnen", d. h. sie aufzulösen. (20) So ist die große Frage der Gegenwart nicht die Frage der Einheit, der Übereinstimmung der gemeinsamen Interessen und Triebe, die man lösen könnte, indem man sie in "gute" und "schlechte" richtig einteilt, sondern die Frage wie man sie anwendet. Das Verbrechen des Faschismus ist nicht, daß er das Irrationale freiließ, sondern daß er auf das Unbewußte gewirkt und es manipuliert hat. Die nazistische Kulturpolitik visiert, nach Lyotards Ansicht das Unbewußte, um seine Energie zu mobilisieren. Es handelt sich darum, dem verzweifelten Volk die Fabel seiner verhängnisvollen Bestimmung, Europa vor der nihilistischen Dekadenz zu retten, einzuprägen. (21)

Es ist seltsam, daß die Idee der Vorherbestimmung, so wie auch die des polymorphen Paganismus der Triebe in gewissen Umständen gleichermaßen zum Terror führen - der Mensch, der von Außen und der Mensch, der von Innen gesteuert ist gleichen sich. Sie sind auf gleicher Weise und im gleichen Maße blind. Und das ist vielleicht die hauptsächliche Schlußfolgerung des Ödipusmythos, die Hölderlin zuerst feststellte: "In solchem Momente vergißt der Mensch sich und den Gott und kehret, freilich heiligerweise, wie ein Verräter sich um. - In der äußersten Grenze des Leidens bestehen nämlich nichts mehr als die Bedingungen der Zeit oder des Raums. In diesen vergißt sich der Mensch, weil er ganz im Moment ist; der Gott, weil er nichts als Zeit ist; und beides ist untreu, die Zeit, weil sie in solchem Momente sich kategorisch wendet und Anfang und Ende sich in ihr schlechterdings nicht reimen läßt; der Mensch, weil er in diesem Momente der kategorischen Umkehr folgen muß, hiermit im Folgenden schlechterdings nicht dem Anfänglichen gleichen kann". (22)

bluered.gif (1041 bytes)

Notes

(1) G. Deleuze, F. Guattari. Capitalisme et schizophrénie. L'Anti-Œdipe, S. 59.

(2) A. Griset. J. Baudrillard - Oblier Foucault. In: Les Dieux de la cuisine. Aubier, P., 1978, S. 55.

(3) J. Baudrillard. L'échange symbolique de la mort. Gallimard, P., 1976, S. 343; "Marxismus und Psychoanalyse befinden sich in Krise. Man sollte ihre jeweilige Krise eher verschärfen und beschleunigen, als eines durch das andere zu stützen. Sie können sich gegenseitig noch viel Böses antun. Dieses Schauspiel sollte man sich nicht entgehen lassen. Das sind nur Schlachtfelder der Kritik" (J. Baudrillard. Der symbolische Tausch und der Tod. Matthes & Seitz Verlag, München, 1982, S. 361).

(4) M. Foucault. Les mots et les choses. Gallimard, P., 1966, SS. 334-336.

(5) J. Lacan. É crits. Seuil, P., 1966, S. 575.

(6) J. Baudrillard. Le miroir de la production. Casterman, P., 1973, S. 38.

(7) J.-F. Lyotard. L'économie libidinale. Minuit, P., 1974, SS. 130, 148 ff.

(8) G. Deleuze, F. Guattari. Capitalisme et schizophrénie. L'Anti-Œdipe. Minuit, P., 1972.

(9) Ibidem, S. 7.

(10) Ibidem, SS. 10-11.

(11) Ibidem, S. 57.

(12) Ibidem, S. 62.

(13) Ibidem, S. 319.

(14) D. Grisoni. Les onomatopées du désir. In: Les Dieux dans la cuisine, S. 148.

(15) Ibidem, SS. 142-149.

(16) J.-F. Lyotard. L'économie libidinale, S. 14.

(17) J.-F. Lyotard. Pérégrinations. Galilée, P., 1990, S. 21.

(18) Ibidem, S. 32.

(19) J.-F. Lyotard. L'économie libidinale, S. 43, 310-311.

(20) J.-F. Lyotard. La condition postmoderne. Minuit, P., 1979, S. 106; Le Différend. Minuit, P., 1983, SS. 213-217, 259-260.

(21) J.-F. Lyotard. Moralités postmodernes. Galilée, P., 1993, S. 32.

(22) Hölderlin. Anmerkungen zu Ödipus. In: Friedrich Hölderlin Sämtliche Werke. Zweiter Band, Carl Hanser Verlag, München, 1970, S. 396.

bluered.gif (1041 bytes)

 

Back to the Top

20th World Congress of Philosophy Logo

Paideia logo design by Janet L. Olson.
All Rights Reserved

 

Back to the WCP Homepage