Gesine Palmer

Auserwähltheit und Erwählungsneid.

Zur Frage von Religion und  friedlicher Unterlegenheit [1]

©Gesine Palmer 2006.

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Erwählung und Ressentiment miteinander zu verbinden, ist nur sinnvoll, wenn man die folgende einfache Beobachtung nicht übergeht: Der Bund zwischen einem Erwählenden und einem Erwählten setzt in sich schon einen Dritten voraus, der nicht erwählt wird. Wo einer erwählt wird, muß mindestens ein anderer nicht erwählt sein, andernfalls wäre die Wahl keine Wahl und der Erwählte nicht erwählt. Der Erwählte und der Nichterwählte haben von Beginn an ihre Passivität gegenüber dem, der erwählt oder nicht erwählt, gemeinsam. Der Nichterwählte könnte sich nun nach der Wahl abwenden, vielleicht in der Hoffnung, von jemand anderem erwählt zu werden. Wenn aber für den Nichterwählten der Erwählende von äußerster und bleibender Wichtigkeit ist, dann kann man sich als Grundgefühl des Nichterwählten kaum ein anderes Gefühl vorstellen als das tiefster Gekränktheit. Dieses Gefühl in seinen zur Aggression treibenden Komponenten kann in der so konstruierten Konstellation nun entweder gegen den Erwählenden oder gegen den Erwählten gerichtet werden.

I.

Die Idee der Erwählung, konkret die Vorstellung, das von Gott für einen speziellen Bund erwählte Volk zu sein, das zugleich dazu ausersehen war, das Licht genau dieses erwählenden Gottes zu den Völkern zu bringen, gab insofern gerade denjenigen Völkern Anlaß zu besonderem Ressentiment gegen Israel, die das Licht des erwählenden Gottes akzeptieren und sich selbst auf eigene Weise in eine Beziehung setzen wollten zu dem Gott, der seine Wahl bereits ein für allemal getroffen hatte. Wenn keine Beziehung zu diesemGott gewünscht war, konnte einem Volk die spezielle Erwählung Israels durch seinen Gott ziemlich gleichgültig sein, aber wenn ein Gott, den ich meinen Gott nennen will, ein anderes als mein Volk erwählt, habe ich eine unerfreuliche Position. Als eine deutsche und protestantische Autorin und als in jeder Hinsicht nichtjüdische Teilnehmerin an einem Kongress über das Theorem der Erwählung dachte ich, ich sollte einmal nicht über das Denken eines deutsch-jüdischen Philosophen zu diesem Problem schreiben, sondern das Problem des Nichterwähltseins direkt angehen, ohne Apologie und ohne ein weiteres Mal den Beweis zu erbringen, daß inzwischen auch deutsche Protestanten und Katholiken ohne Rancune von den jüdischen Philosophen und der jüdischen Tradition lernen können. Es hat in den vergangenen Jahren viele Versuch gegeben, die christlichen Theolgien von antijüdischem Material zu reinigen und sich der zivilierten Welt wieder einzugliedern nach dem großen Schlachten des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber haben wir inzwischen zum Problem das Ressentiments mehr  zu sagen als daß wir es nun lieber nicht mehr ausleben und eigentlich auch gar nicht empfinden wollen? Meine erste Idee, als ich die ehrenvolle Einladung zu dieser Konferenz erhielt, war, etwas Historisches über Erwählung und Ressentiment zwischen Israel und den Völkern zu schreiben, in etwa so:

1. Reaktionen gegen die jüdische Behauptung, Gottes erwähltes Volk zu sein
1.1 Odium humani generis vom mißverstandenen Tacitus bis Heinrich von Treitschke
1.2 Verus Israel als Versuch, die Erwählungstradition zu entwenden und sich ihr Bestes für "uns" anzueignen, das Schlechte dagegen als Überheblichkeitsvorwurf an die Juden zurückzugeben.
1.3 Multikulturalistische Argumente für den Ausschluß exklusiver Religionen aus der Gemeinschaft der "religiös korrekten" Religionen.
2. Jüdische Apologien und Rechtfertigungen im Angesicht solcher Angriffe
2.1 Erwählung bedeute doch nur, daß das jüdische Volk besonders strengem Gericht ausgesetzt sei (entsprechende Auslegung von Amos 3,2 u.a. Stellen)
2.2 Jedes Volk das auf sich hält, hält sich in gewisser Weise für auserwählt, das ist keine jüdische Spezialität (so argumentiert z.B. das Lemma Erwählung im Jüdischen Lexikon)
2.3 Die Idee der Erwählung kann historisch erklärt werden als Versuch einer Kompensation für die schweren Verluste und Niederlagen, die Israel zu erleiden hatte.
2.4 Erwähltsein heißt, wie Levinas erklärt, ausersehen zu sein als derjenige, der dem Ruf des Anderen unbedingt zu folgen habe. [2]

Es war mir aber nicht möglich, dieses Projekt, das vermutlich die graue Literatur der Projektanträge  um ein hübsches weiteres erfolgreiches Stück bereichern würde, umzusetzen, aus verschiedenen Gründen:

1. Es wäre ein Buch geworden, ich hätte mir damit einen Blumentopf gewinnen können, aber es wäre zu viel für einen schnellen Vortrag gewesen, und außerdem hätte ich das Problem des unerwählten Dritten in seiner psychologischen, theologischen und philosophischen Dramatik wiederum liegen gelassen.
2. Abgesehen vom Punkt 2.3 hätte ich eine Einteilung aufrechterhalten, die dem Judentum die Erwählung und den Völkern das Nichterwähltsein und das Ressentiment zuweist. Dies scheint aber nicht ganz richtig zu sein, denn das Zeichen der Erwählung wechselt bereits in der Hebräischen Bibel, und Neid läßt Kains Gesicht fallen, mit anderen Worten: Das Problem derer, die nicht erwählt werden, treibt die Bibel um und ist eine ständige Beunruhigung innerhalb des erwählten Volkes selbst, es scheint eines jener Probleme zu sein, die überall und nirgends sind, ein herumgeisterndes Problem. †berdies hat das Verus Israel Dogma das jüdische Volk zum auserwähltesten Nichterwählten ausersehen.
3. Meinen Plan ausführend hätte ich ferner voraussetzen müssen, daß es immer als ein Vorzug empfunden würde, auserwählt zu sein, selbst dann noch, wenn diese Erwählung mit Leiden verbunden ist. Dies scheint spätestens seit der Aufklärung nicht mehr zuzutreffen, aber bereits die Propheten sind meist nicht durchaus beglückt darüber, für ihre Aufgabe auserwählt zu sein. Die Ambivalenz des Erwähltseins führt von Anfang an in eine Opferlogik, sowohl auf Seiten der Erwählten als auch auf Seiten der Nichterwählten. Insofern deutet mehr als jene bekannte satirische Beschwerde der Juden darüber, daß sie schon wieder auserwählt wurden, darauf hin, daß dieses Privileg durchaus als Plage empfunden werden kann. [3] Formulierungen wie die von der "Intoleranz der Opfer", die sich auf nicht unproblematische Interpretationen psychoanalytischer Einsichten und einen erst recht problematischen Begriff von Ab- bzw. Ausgrenzung stützen, belegen auf der anderen Seite, daß der Verzicht auf einen Erwählungsgedanken auch Überlegenheitsgefühle verursachen kann. [4]
4. Die besten Theorien der Erwählung, seien sie nun in jüdischen oder nichtjüdischen Zusammenhängen  entstanden, scheinen solche zu sein, in denen kein Dritter übrig ist, der zum Ressentiment verurteilt wäre. Erstaunlicherweise läßt sich so etwas durchaus denken, und ich würde den betreffenden Gedanken wie folgt zusammenfassen:
Der Impuls, einem Unrecht, gar einer mörderischen Untat zu widerstehen, ist stets Ausdruck einer hoch entwickelten Bereitschaft, die Achtung vor der Allgemeinheit der Menschen und darum den Schutz eines JEDEN Individuums zur eigenen Sache zu machen. Er ist also, wo er in einem Menschen auftaucht, Ausdruck des höchsten Bewußtseins der Gleichheit der Menschen und der innigsten Verbundenheit eines Menschen mit seinen Mitmenschen. Und doch wird er im richtigen Leben, oder, wenn einem das lieber ist, in der Geschichte, zu einer Absonderlichkeit und einem individuellen Spleen, wo immer sich eine Gruppe von Menschen gegen eine andere oder gegen einen ausgestoßenen Einzelnen zusammentut. Wer aus einer Gruppe, die sich auf Kosten eines wie immer gearteten Menschenopfers zusamenschließt, mit einem Nein ausschert, isoliert sich von der Logik und den verbindenden Selbstverständlichkeiten seiner eigenen Gruppe und riskiert deswegen, selbst das nächste Opfer zu werden. Und dennoch ist er der EINZIGE, der die Allgemeinheit der Menschen, ihren Zusammenschluß in einem inklusiven Menschheitsbegriff, gerade im Risiko seiner persönlichen Aussonderung vollzieht. Dies gilt vollkommen unabhängig von allen mehr oder weniger vernünftigen Begründungen der Zusammenschlüsse starker gegen schwache, vieler gegen wenige, aller gegen einen Menschen. Auf dieser Erfahrung beruht die mögliche  und auch die schreckliche Wahrheit des biblischen Erwählungsgedankens.

Dieser letzte Gedanke aber wird erst am Ende eines langen Reflexions- und Diskussionsprozesses um jenen Satz aus dem Deuteronomium formulierbar, und unter Herbeiziehung einiger neuer Sichtweisen dessen, wie das Isolieren und Selbstisolieren von Gruppen und Einzelnen in Gesellschaften funktioniert. Sich ein ganzes Volk vorzustellen, das die Aufgabe der Sorge für die Einhaltung des Mordverbots in der Welt übernimmt, war immer schwierig, für Juden ebenso wie für Christen und Muslime, denn die inneren Konflikte und Grenzkämpfe hören niemals auf. Während das Judentum sich mit der Idee des heiligen Rests auf der einen Seite, mit dem Konzept der Gerechten aus den Völkern auf der anderen Seite half, entwickelte das Christentum neben seinem allzu starken messianischen Impuls Theorien wie die des Aurelius Augustinus über die unsichtbare civitas Dei oder etwas so Steiles wie Kierkegaards Interpretation von Röm 8,28 (Wir wissen nämlich, daß alle Dinge zusammenwirken zum Guten denen, die Gott lieben, denen, die gemäß der Voraussicht berufen sind). Kierkegaard löst das Problem, wie man wissen könne, ob man von Gottes Voraussicht berufen sei, indem er sagt, ein Mensch müsse erst einmal sich selbst erwählen, indem er seine persönliche Geschichte auf das Allgemeinste der Ethik beziehe und daraufhin alles bereue, was falsch war. Möglicherweise mit still widersprechendem Bezug auf diese Stelle betont Rosenzweig, daß Gottes Erwählung Israels das Blut der Willkür in sich habe. Für die Frage danach, was mit dem Dritten der Erwählung geschehen soll, was ihm bleibt, ist der Unterschied nur einer von Nuancen, denn bei allen genannten Theoremen, dem vom heiligen Rest, dem von der unsichtbaren Kirche, dem von der Selbsterwählung nach Maßgabe der Ethik und dem von der blutig willkürlichen Erwählung ist das Erwähltsein zwar nicht nur schön, aber es ist doch unweigerlich mit der Voraussetzung behaftet, daß es auch Nichterwählte gibt.

Was also bleibt denen, die weder zum heiligen Rest gehören noch die unterscheidende und auszeichnende Liebe zu Gott in ihren Herzen fühlen? Müssen sie im Neid bleiben und nur durch Gewalt daran gehindert werden können, die Erwählten zu  verfolgen?

II

Jemand wählte aus allen Gedichten Katuv beIparon bakaron hechatum von Dan Pagis, um es in den Waggon einzuschreiben, der in der Ausstellung von Yad VaShem steht:

"Hier in diesem Waggon bin ich, Eva, mit Abel, meinem Sohn.Wenn ihr meinen anderen Sohn Kain seht, Sohn von Adam/ Sohn eines Menschen/ Menschensohn seht, sagt ihm ich..."

Das Gedicht verweist seine Leser auf eine der kompliziertesten und schwierigsten Dichtungen der Bibel, die unerschöpfliche Geschichte von Kain und Abel in Gen 4,1-16.

Pagis bringt in diese Geschichte eine Figur zurück, die vollkommen abwesend gewesen zu sein scheint, nachdem sie Kain und Abel zur Welt gebracht hatte, er bringt Eva zurück. Er läßt sie ermordet werden, zusammen mit ihrem jüngeren Sohn, und er läßt sie vergebens nach ihrem Mörder rufen, den sie immer noch ihren anderen Sohn nennt, aber auch den Sohn Adams, den Sohn des Menschen oder Mannes, Kain. Ich werde im folgenden versuchen, diese Geschichte unter der Frage nach dem Schicksal des Nichterwählten zu lesen und einige Beobachtungen und Assoziationen dazu vorstellen:

Ich lese diese Erzählung als eine Dichtung aus der Feder des Autors oder der Autorin des jahwistischen Buches, einer Autorin also, die sehr viel Kunst darauf verwandt hat, in einem Wort auf viel mehr Bedeutungen anzuspielen als ein Wort tragen kann, einer Autorin oder eines Autors, der sehr aufmerksam und kundig in die Abgründe der menschlichen Seele schauen konnte. Ich lese das Stück als die klassischste Dichtung zum Thema Erwählung und Neid, und ich lese es in dem Versuch, alle involvierten Charaktere zu verstehen, einschließlich meines eigenen als einer Leserin. Ich bin geneigt, diese Geschichte als Indiz für Harold Blooms These, daß das Buch J von einer Frau geschrieben wurde, zu lesen, aber ich habe nicht die Absicht, mich hier auf die Festlegung einer so fernen Figur zu kaprizieren. Blooms Idee ist nur gerade hinsichtlich dieser Gestalten so überzeugend, weil die Zuspitzung des Erwählungskonfliktes viel leichter erklärlich wird, wenn man sich vorstellt, daß hier ein Problem aus der Sphäre der polygamen Ehe übertragen worden ist in die rein männliche Konstellation zwischen einem Vatergott und zwei Brudersöhnen. Dies sagt Bloom nicht, aber mir scheint, sehr viel im Buch J kreist um die Kränkung der Frauen in der polygamen Ehe und um ihre Versuche, ihre Konflikte über die Söhne auszutragen. Bloom aber tut etwas anderes mit der Geschichte, an das ich gerne anschließe, er bezieht sie auf das Neidproblem, wenn er schreibt: "Cain is the first human achievement after the expulsion from Eden, and his crucial quality is not evil but an implied resentment against Yahweh." [5] Ich stimme Bloom zu, wenn er den Neid betont anstelle des Bösen (, womit er gegen die überwältigende Mehrheit der Urteile sowohl der jüdischen als auch der christlichen Tradition steht, die in Kain von Anfang an einen Bösen sehen wollten), aber ich sehe die Richtung des Ressentiments doch sehr deutlich anders: Mir scheint Kain eher zu wenig Ressentiment gegen J zu haben, und zu viel gegen seinen Bruder. [6]

Es gibt also möglicher weise mehrere gute Gründe, Pagis'  Idee, Eva zurück in die Geschichte zu bringen, sehr ernstzunehmen. Der biblische Text erzählt nicht viel über Evas Verhältnis zu ihren Söhnen. Eva ist glücklich über Kains Geburt und sagt jenen schwierigen Satz (4,1): "qaniti 'ish `t YHVH". Sie gibt ihm seinen Namen, und auf die eine oder ander Weise scheint die Geburt eines männlichen Kindes sie näher an J zu bringen. Einige sagen, sie erschuf einen Mann wie es J zuvor getan hatte, einige sagen, sie erschuf gemeinsam mit J einen Mann (J wäre hier also als Vater vorgestellt, was schlecht dazu paßt, daß Schwangerschaft und Geburt auf das Erkanntwerden durch Adam folgen, wieder andere sagen, sie habe J's Gnade wieder gewonnen, andere lesen in dem Satz eine Bescheidenheitsgeste gegenüber J, weil dieser ihr bei der Geburt geholfen habe. Der doppelte Akkusativ bleibt schwierig bis verstörend. Aber immerhin, sie ist glücklich und offenbar auch überrascht, kein Wort über Wehen oder Schmerzen, kein Wort mehr über Adam. Dann fährt sie fort zu gebären, ein anderes Kind. Hevel, Kains Bruder, ohne weiteren Kommentar. Aber insofern er eine Ergänzung zu ihrem ersten menschlich/ männlichen Geschöpf ist, ist Abel/ Hevel ihr wiederum näher als Kain, denn auch sie war eine Ergänzung zu Gottes erstem menschlich/ männlichen Geschöpf, eine Isha zum Ish. Dies ist ebenfalls angedeutet im Namen Hevel, der Chevel (Wehe/ Schmerz) ebenso anklingen läßt wie Evas Namen Chava, außerdem Geist, Atem und Eitelkeit, Nichtigkeit - während Kain als ein Oved Adamah näher an Adam bleibt, bodenständiger, substantieller, materieller (und vielleicht ist es am Ende vom Oved Adamah gar nicht so weit zum Eved Adonai). Indem Bloom mit anderen (nämlich starken Linien der Tradition) J zum Adressaten von Kains Ressentiment macht, weist er auf die ebenfalls viel erörterte Möglichkeit hin, Kains Namen mit der Wurzel Kin'a zu erklären.Kain hätte dann Evas Eifersucht auf J "geerbt"; immerhin war der Wunsch, zu sein wie J, kein geringes Motiv für Evas Griff zum Apfel [7] - und zugleich mit der Eifersucht auch eine Eigenschaft J's übernommen.

Aber mir scheint doch, daß Kains Neid und Ressentiment sich eher auf seinen jüngeren Bruder richten, den er als erwählten und ihm vorgezogenen erfährt. Kains Gefühle werden so dargestellt, wie man sie möglicherweise in fast jeder Geschichte von Liebesbeziehungen zwischen Menschen als eine geläufige Grundstruktur wieder finden kann: Am Anfang wünscht Kain etwas zu tun, das J gefällt, denn er wünscht, dessen Zuneigung und Verlangen zu gewinnen. Er ist der erste, der ein Opfer bringt, und, so wird gesagt, veHevel hevi gam hu, und Hevel bringt auch ein Opfer. Jedes Geschwisterkind kennt das, die Jüngeren imitieren freudig die €lteren, manchmal ist das schön, oft genug ist es mehr als lästig. Hier stört Hevel, ob naiv oder absichtlich, erfährt man nicht, die Intimität zwischen J und Kain, die dieser durch sein Opfer herbeiführen wollte. Dadurch allein kann Kain sich schon bedroht fühlen; zudem könnte ihm das Opfer Abels aber auch in seiner symbolischen Bedeutung einen Anlaß für Gefühle von Bedrohtheit geben: Abel, der zweitgeborene seiner Mutter, opfert seinem Gott vom Erstgeborenen seiner Herde. Mit diesem Opfer, das sicher auffälliger ist als das Fruchtopfer Kains, gewinnt Abel die Aufmerksamkeit Js, und die Erzählung ist hier sehr deutlich: Auf das Opfer von Kain sah J nicht. Es wird geschrieben, was dies für Kain bedeutet, nicht, was es für Abel oder J bedeutet. Kain wird heiß und sein Gesicht fällt. Er - so wird es gelesen - muß glauben, daß J den Abel erwählte und ihn nicht, und so wählt er seinerseits Abel zum Opfer seines Zorns und erschlägt ihn. Sein Neid trifft den störenden Rivalen, nicht den, nach dessen Verlangen es Kain verlangt. Die Bedeutung der Rivalität zwischen den beiden Brüdern wird nicht nur unterstrichen durch die vielen anderen Geschichten von Geschwisterrivalität im gesamten jahwistischen Werk, sondern sie regiert auch den Rhythmus dieses Textes: Die Sätze, in denen beide Brüder agieren, beginnen in strukturiertem Wechsel mit Kain und Abel: 4,1 Kain, 2, Hevel, Kain, 3, Kain, 4, Hevel, Hevel, 5 Kain. Kain, der sich durch J zurückgesetzt fühlt, richtet seinen Zorn gegen Abel, nicht gegen J, der unangefochten in der Position dessen bleibt, um dessen Aufmerksamkeit rivalisiert wird, gleichgültig, wie sehr er Kain enttäuscht hat. Die Geschichte wiederholt sich über das ganze Buch, und sehr oft ist im Hintergurnd eine scharfe Rivalität von Frauen um die Gunst des einen gemeinsamen Mannes erkennbar.

Es ist mir unmöglich, die Erzählungen der Bibel, und besonders die jahwistischen unter ihnen, nicht als Beziehungsgeschichten zu lesen, in denen beide Partner sich entwickeln, Gott und seine Geschöpfe gleichermaßen. Ein großes Problem ist immer, daß Gott einer ist, seine Geschöpfe aber viele, und doch entwickeln sich die Geschichten regelmäßig und werden regelmäßig gelesen, als käme alles auf eine Beziehung zwischen zwei Personen an. Dies geht weit über das Buch Bereshit hinaus und nimmt erstaunliche Formen in denjenigen unter den den Prophetenbüchern an, die Gott und Israel als ein Ehepaar vorstellen, und dieses Thema ist weit davon entfernt, erschöpfend behandelt zu sein, sei es von der Tradition oder von solchen modernen Leseversuchen wie denen von Eilberg-Schwartz, Daniel Boyarin, meinen eigenen oder anderen. Angenommen, ich hätte recht und die Beziehung zu Gott wäre stets moralisiert als eine zwischen zwei Personen, dann führt die Differenz in Zahlen tatsächlich zu einem durchgängigen Problem, zu dessen Lösung Gott in diesem ersten Text auf zwei sehr bewährte Mittel zurückgreift: Wahl und Herrschaft. Der Konflikt zwischen J und Kain dreht sich um Herrschaft, der Konflikt um Erwählung scheint sich zwischen Kain und seinem Bruder abzuspielen, aber als derjenige, der wählt, ist Gott Herrscher über beide. Er spielt seine Karten aus in einer Weise, deren höhnische Aspekte von aufmerksamen Lesern keineswegs übersehen wurden (man denke etwa an Lord Byron's Gedicht über Kain). Aber neben den höhnischen Aspekten gibt es doch auch eine Botschaft von Wahrheit, Gerechtigkeit und Gnade in allem, was Gott der ersten menschlichen Familie sagt, und vielleicht kann man davon umso mehr erfassen, je weniger apologetisch ich den Text betrachte; je weniger ich, mit anderen Worten, vorab davon überzeugt sein will, daß der Gott in diesen Szenen in allem recht hat, desto mehr von dieser guten Botschaft kann vielleicht sichtbar werden. Man könnte durchaus so weit gehen zu sagen, daß J in dieser Geschichte (und im weiteren Verlauf der Geschichten der Bibel) gezwungen wird, seine eigene Gerechtigkeit angesichts der Schwäche seiner Menschen weiterzuentwickeln.

Der Augenblick, auf den in dieser Geschichte alles ankommt, ist der Augenblick vor dem Mord. Man mag sich erinnern, wie Kierkegaard, Derrida und andere jenen anderen Augenblick vor dem Mord sorgfältig analysierten, jenen Augenblick in Gen 22, als Abraham seine Hand hebt gegen seinen Sohn Isaak. In jener späteren Geschichte betritt, wie jeder weiß, ein Engel Js die Szene und verhindert den Mord (bis dahin spricht die Geschichte von Elohim, J kommt nur dazu, um das Kind zu retten). Aber in dieser Szene in Gen 4,6 weiß überhaupt noch niemand, was der Tod ist, wenn man die Geschichte ernstnimmt. Alles geht hier um Erwählung und um unten und oben, und offenkundig geht alles schief. J sah Kains Opfer nicht an, aber was er sehr wohl sah war, wie Kains Gesicht fiel. Und nun spricht er zu Kain, teils spottend, teils sehr ernsthaft einige Weisheit anbietend, teils ihn herausfordernd. Er fragt: "lamah charah lach ve lamah naflu panaich? Halo `m tetiv sse`t ve`m lo tetiv lapetach chata`t rovetz ve'elaich teshuqato ve'ata timshal bo." ("Warum wurdest du heiß und warum fiel dein Gesicht? Ist es nicht so, wenn du es gut meinst, hältst du dein Gesicht, und wenn du es nicht gut meinst, lauert an deiner Öffnung die Sünde, und nach dir ist ihr Verlangen, und du beherrsche sie.") [8] Dies könnte funktioniert haben, wenn Kain verstanden hätte, daß er hier seine Chance bekam. Es wäre aber die Chance gewesen, stärker und beständiger zu sein als möglicherweise J selbst, und ich denke, das gibt für Kain den Ausschlag. Die alte Geschichte: Eine Vaterfigur verlangt Bescheidenheit, ohne selbst bescheiden zu sein. Diese Geschichte wurde mittlerweile durchgespielt als Menschheitsproblem bis hin zu Lacans Analyse des double-binds, der die Vater-Sohn-Konflikte seit der "Urhorde" beherrsche. In dieser biblischen Geschichte könnte der Stachel, durch dessen Schmerz Kain daran gehindert war, die Wahrheit des göttlichen Wortes zu erkennen, wie folgt beschrieben werden: J, dessen Aufmerksamkeit erst durch das etwas spektakulärere Opfer Abels angezogen wurde, dann durch eine besondere Veränderung in Kains Haltung, kann vorgestellt werden als jemand, der im nächsten Augenblick von der nächsten aufregenden Veränderung angezogen würde. Von seinem Kain aber erwartet er, daß dieser standfest bei dem bleibt, was er begonnen hat: Er soll seine Opfergabe darbringen, ungestört durch die Aktion seines Bruders und unbeeindruckt von der Reaktion Js, und dabei noch eine unbekannte Sünde beherrschen, die an seiner Öffnung lauert, an seiner allzu hingebungsvollen Aufmerksamkeit für das, was J und die Welt um ihn her tun. Kain aber scheint die Aufforderung, sein Gesicht zu erheben, mißzuverstehen, er erhebt stattdessen sich selbst - gegen seinen Bruder, und der erste Tote auf Erden ist ein erschlagener Rivale.

Es wird die stets dringliche Notwendigkeit, Menschen am Morden zu hindern, gewesen sein, die viele Generationen von Interpreten veranlaßt hat, sich fast ausschließlich auf das zu konzentrieren, was nun folgt: Gottes Frage, Kains Versuch, den Konsequenzen seiner Untat auszuweichen, Gottes Verfluchung Kains und Kains Bitte um Schutz, der Buchstabe, der ihm eingeschrieben wird, und weiter geht es mit einem Kain, der auf immer schlecht ist und dessen Eltern, die während der gesamten Geschichte abwesend waren, unbedingt neue Kinder brauchen, damit sichergestellt werde, dass wir nicht alle von Kain abstammen. Man hat Kain für von Anfang an schlecht gehalten, gezeugt von der Schlange, nicht von Adam, schummelnd beim Opfer, das nicht von den ersten Früchten gewesen sei, und schwerster Tadel trifft seine Rebellion gegen Gott bei Rabbinen und Kirchenvätern und vielen nach ihnen. Vielfältig sind die Erklärungen, in denen Kain die Verkörperung alles Bösen ist, sein Neid stamme aus der fleischlichen Lust oder einer gierigen und unbeständigen Natur, oder von seiner sündigen Neigung, überall Diskriminierung und Zurücksetzung zu wittern. Manche glaubten, er sei zu stolz gewesen auf seine Kultivierungsleistung, während Abel sich nur auf das verlassen habe, was Gott bereitstellte - gegen diese haben andere argumentiert, dass Abel sich verhalten habe, als wäre er immer noch im Paradies, während Kain die Vertreibung realisiert und sich an die Arbeit gemacht habe. Dieses letztere Argument, von Erasmus von Rotterdam vorgebracht gegen einige Oxforder Theologen, ist hier vor allem deswegen interessant, weil es das erste ist, das überhaupt eine Realität außerhalb Kains als einen seine Handlung beeinflussenden Faktor in Erwägung zieht. Als erstes reduziert es Kains Neid nicht auf einen beliebigen Impuls aus dessen Inneren, sondern erklärt ganz prinzipiell seine Handlungen als geleitet von einer Wahrnehmung einer Realität außerhalb seiner. Insofern erlaubt es uns, zurückzublicken auf den Moment, in dem Js Wahl dazu führt, dass Kains Gesicht fällt. Kains Enttäuschung ist ja eine ganz und gar sinnvolle Reaktion auf die (nach Aussage der Geschichte)  äußerlich-reale Tatsache, dass er mit seinem Opfer keine Aufmerksamkeit erfährt, sein kleiner Bruder aber, der ihm  das Opfern nachgemacht hat, sehr wohl. Die Erzählung selbst ist hier auch ganz deutlich, weder leugnet sie diese Realität noch rechtfertigt sie sie auf irgendeine Weise. J sah das Opfer von Kain nicht an, Punkt. Und nun prüft J Kain. Er empfiehlt ihm, nicht zur Seite zu schauen, sondern einfach weiter gut zu sein und sein Gesicht zu wahren. Eine weise Empfehlung, käme sie nicht von einem, der so viel mehr von seinen Geschöpfen verlangt als von sich selbst, und wäre sie nicht nur ein weiterer Schritt in der Dynamik jener ungerechten und ungerechtfertigten Erwählung. Wie kann Kain da sein Gesicht wahren? Wie kann irgendjemand ertragen, zurückgesetzt zu werden und dennoch denjenigen, der ihn/sie zurücksetzt, ohne Ressentiment lieben und ohne scharf zu empfinden, dass der Gesichtsverlust bereits in der Zurücksetzung selbst geschieht?

Kain versucht, die Situation zu ändern, indem er seinen Bruder tötet und also sich selbst an die Stelle des Erwählten setzt. Und in gewisser Weise gelingt das sogar: Er ist derjenige, der übrig bleibt, ein obzwar unheiliger Rest. Sicher, das Blut seines Bruders schreit zu J von der Erde. Aber Kain lebt, Abel ist tot. Der Erstgeborene scheint sein Recht zurückerobert zu haben, geopfert wurde dafür der zweite. Sicher, Kain wird verflucht, seine Arbeit an der Erde, die Erde selbst wird verflucht und Kain verurteilt zu einem rastlosen Leben in Nod, das eines der feineren Paradoxe der Geschichte bietet, Nod ist ein Ort an dem niemand leben und bleiben kann, Kain, der erste Nudniq, lebt und bleibt wo niemand leben und bleiben kann östlich von Eden. Aber: Er ist auch der, zu dem J gesprochen hat. Und es gibt mehr als dieses Sprechen. Mit seiner Frage HaShomer achi anochi? sollte Kain nicht nur als rebellisch oder zynisch angesehen werden. Sicher ist er in Panik und versucht, seiner Verantwortung zu entgehen, aber so wenig wie er wissen konnte, was der Tod ist, wenn man in der Logik der Anfangsgeschichte bleibt, so wenig konnte er wissen, was er zu tun hat, es gibt ja noch keine Torah, es gibt nur das eine abstrakte Verbot, das J gegenüber Adam und Eva ausgesprochen hat, die abstrakt gewonnene Unterscheidung zwischen gut und böse, den Fluch, den J über Kains Eltern ausgesprochen hat, das, was Kain aus dem Gesicht Js erschließen konnte und den etwas kryptischen Rat, die Sünde zu beherrschen und das Gesicht zu wahren. Kain konnte offenkundig nur sehen, dass das, was er für eine gute Idee hielt, nämlich J eine Opfergabe zu geben, von diesem nicht nur nicht belohnt, sondern keines Blickes gewürdigt wurde. J ergänzt schliesslich seinen Fluch über Kains Arbeit um einen Fluch gegen jeden, der Kain töten will, und um den ersten Buchstaben, über den in dem gesamten Text der Bibel geschrieben wird, er setzt einen Ot auf Kain, damit niemand, der ihn fände, ihn schlüge. Auch über diesen Buchstaben wurde viel spekuliert, darüber, ob es der Name Gottes auf Kains Stirn oder ein Tet irgendwoanders war, es gibt sogar die Idee, es könnte ein Horn gewesen sein, aber das alles verblaßt angesichts der schlichten Mitteilung, dass der nichterwählte Brudermörder ausersehen ist, einen Buchstaben zu bekommen, den ersten Buchstaben, und zwar einen Buchstaben, der ihn vor den schlimmsten Konsequenzen seiner Untat schützt, der Buchstabe selbst ist also ein Gnadengeschenk. Kain empfängt ihn, nachdem die Ermahnung durch bloßes Sprechen nicht genügt hatte, sondern verschwunden und zu nichts geworden war, wie die Stimme Hevels, dem Namen dieses Jüngeren entsprechend, aus der Geschichte verschwunden ist. Gleichwohl ist die Gnadengabe des Buchstabens erst als Ergebnis des Schuldeingeständnisses von Kain erfolgt, J hat sowohl die Schreie von Hevels Blut beantwortet als auch den Angstruf des Mörders.

Kain aber, der überlebende Mörder, nimmt den Buchstaben, geht fort von J und siedelt sich in einem Nirgendwo an. Dort hat er eine Frau, und ihr erster gemeinsamer Sohn ist Chanoch, ein Lehrer und Regent der Menschheit vor der Sintflut, ein Mann, der nach Bibel und mystischer Tradition von Gott mit den höchsten denkbaren Ehren ausgestattet wird.

Und wo ist Abel, wo seine Mutter?

Ich muß an dieser Stelle unterbrechen. Ich kann versuchen, Kain zu verstehen, ich kann sehen, dass der J des Buches J Kains Angst beantwortet und auch das Schreien von Abels Blut, ich kann dies alles unter dem Gesichtspunkt lesen, den David Bakan mit seiner Idee von der "Motherisation of Man and God in the Bible" eröffnet hat, ich kann wie Eilberg-Schwartz das Problem des Verlangens nach dem Verlangen des anderen, wie es die Psychoanalyse beschreibt, als ein Problem erörtern, das zwischen Gott und einem als weiblich vorgestellten Israel auftritt, und ich kann, mit Harold Bloom, das Buch J als das Werk einer sehr gebildeten Dame aus den letzten Tagen das salomonischen Reiches lesen, die (das wäre meine Begründung für das Femininum der Autorin) die klugen Beobachtungen einer unter den Bedingungen der Polygamie lebenden Frau auf die Beziehung zwischen Gott und Menschen überträgt und damit sagt: Es gibt immer einen, der wählt und damit die Masse derer, aus denen er wählt, in Rivalität festbannt. In all diesen und noch viel mehr möglichen Lektüren wäre Kain nicht mehr einfach ein böser, sondern ein sehr verständlicher Charakter.

Aber warum Kain verstehen? Abel bleibt tot. Der Hebräerbrief des NT mit seinem opferlogischen Focus sieht in Abel den ersten Glaubenden (11,4). Wegen seines Glaubens war Abels Opfer besser als das Kains, und kraft seines Glaubens konnte er über seinen Tod hinaus sprechen. Dies mag manchen tröstlich erscheinen, es ist ja wenigstens etwas, aber richtig befriedigend ist es doch auch nicht; weder das hinzugedichtete Glaubensverdienst Abels kann einen richtig froh machen, noch das, was ihm dafür bleibt.

So unzufrieden kehre ich noch einmal zu dem Augenblick vor dem Mord zurück, zu jenem Augenblick, den Dan Pagis so eindringlich heraufbeschwört. Eine Frage muß doch jeden umtreiben, der sich mit dem Mordenmüssen oder Ermordetwerdenmüssen als Schicksal nicht abfinden will: Was hätte denn Kain daran hindern können, den Mord zu verüben, wenn die Mahnung Js es nicht konnte? Was hätte ihn denn veranlassen können, sein Gesicht zu wahren und das Gesicht seines Bruders zu sehen, was hätte ihm erlauben können, das Opfer seines Bruders angenommen und sein eigenes verschmäht zu sehen, ohne deswegen dem Bruder zu grollen?

Die einfache Ermahnung, das Gesicht auch bei offensichtlicher Kränkung zu wahren, genügte nicht, obwohl doch unleugbar eine große Weisheit in dem Vorschlag ist, bei den eigenen guten Vorsätzen zu bleiben und nicht links und rechts zu schauen, was die anderen tun. Diese Ermahnung konnte Kains Enttäuschung nicht heilen, und sie konnte den Knoten aus Herrschaft und Erwählung nicht lösen. †berdies steckte in ihr nur eine Verlagerung des Opferns: Kain sollte die Ehre Js und seines Bruders ehren, obwohl beide seine Ehre nicht zu ehren schienen. Es wäre also mindestens ein Opfer an Eitelkeit und Stolz und eigentlich auch ein Opfer an Beziehung auf die anderen, das gefordert wäre. Entgegen allem, was von den Kanzeln der Jahrhunderte gepredigt wurde und wird, hat es sich aber noch nie als besonders wirksam und überzeugend erwiesen, wenn Menschen, denen selbst jegliche Erniedrigung erspart geblieben ist, denen, die sie soeben erniedrigen, zurufen, sie möchten doch bitte ihre Erniedrigung in Würde tragen.

An dieser Stelle führt das Christentum deswegen den erniedrigten Gottessohn ein. Das Gedicht von Dan Pagis aber bringt Eva in die Geschichte zurück, Eva, die dazu bestimmt ist, gemeinsam mit ihrem Sohn Abel ermordet zu werden von Kain, den sie dennoch ihren anderen Sohn nennt und gerne mit einer Botschaft erreichen möchte. Aber wie sinnvoll ist es, Erniedrigung zu Erniedrigung zu fügen? Oder soll man in der Geste der Eva von Dan Pagis den einzig möglichen Versuch sehen, Kain sein Gesicht wieder zu geben, indem sie ihm demonstriert, daß sie ihn als ihren Sohn sieht, auch wenn sein Gott ihn übersieht? Vielleicht hätte Kain, wenn er für sich einen akzeptierten und akzeptablen Platz gesehen hätte, sein Gesicht und nicht seine Faust erhoben? So gelesen, wäre Pagis Botschaft möglicherweise eine Adresse an die gesamte mutterlose Kultur, in der der Massenmord stattgefunden hat. [9] Das grundlegende Gefühl, angenommen zu sein, das Kain offenkundig vermißte, kann wohl nur durch die im "mütterlichen Prinzip" gedachte bedingungslose Liebe, die Gott sei Dank oft genug immer mal wieder in realen Müttern erscheint, vermittelt werden. In dem, was in meinen Augen der Idealfall wäre, dispensierte das mütterliche nicht vom väterlichen Prinzip der Verantwortung, sondern legte ihm einen Grund, der nicht subsumiert oder vergessen oder maskiert werden müßte. Denn so wie das isolierte mütterliche Prinzip der bedingungslosen Liebe einfach nur Heerscharen von verwöhnten Infanten produzieren würde, hat sich das isolierte väterliche Prinzip, nach dem jeder für seine gewählten Taten vor einem Gesetz (oder eben, in der archaischen Form, vor einem hordenväterlichen Super-Ego) einzustehen hat, längst als grausam und eitel erwiesen, wenn es nicht immer wieder balanciert wird von einem mütterlichen. Wenn Bakan recht hat und die Geschichte von Gott eine Geschichte der Mutterwerdung des Menschen oder des Mannes ist, dann tragen Judentum und Christentum sehr Unterschiedliches dazu bei. Aber beide hätten die Tendenz, auch dieses Prinzip noch zu einem männlichen Attribut zu machen und damit einem eher männlichen Impuls, die Mutter für nichts und nichtig zu erklären, um als Mann groß sein zu können, zu unterwerfen. Hier genauer hinzuschauen, würde eine eigene Arbeit erfordern; für die Frage der Erwählung ist nur wichtig festzuhalten, daß in der Beziehung zwischen J und Kain ganz offenkundig das fehlt, was Kain erst ermöglicht hätte, bei seiner guten Absicht zu bleiben: ein akzeptabler und akzeptierter Platz. Die hilflose Geste der Eva im Gedicht von Pagis scheint eben diesen Platz doch noch anbieten zu wollen, wird aber vom Zorn der Kainwelt niedergewalzt.

Die biblische Erzählung sieht in der Konstellation Kain, J, Abel vom ersten Auftreten Js an keinen Platz vor, Kain steht als Sohn seiner verfluchten Eltern mit seiner Landarbeit ohnehin schon unter Fluch, aber am Ende werden Rastlosigkeit und Ortlosigkeit als Strafe für seinen Mord dargestellt. Was J dem Kain anbieten konnte, als dessen Gesicht angesichts der Erwählung Abels gefallen war, erforderte viel Heroismus, einen Heroismus, der, wie Blumenberg bemerkte, den Keim zur Rebellion gegen einen solchen Gott bereits in sich trug. Js Rat an Kain war: Folge deinem eigenen Plan, dann kannst du die Sünde des Ressentiments beherrschen. Um diesem Rat zu folgen, um sich selbst als ethisches Subjekt zu erwählen, wie Kierkegaard das ausgedrückt hat, mußte Kain sich erstmal von der passiven und süchtigen Beziehung zu eben dem Gott befreien, der ihm seinen weisen Rat gab, nachdem er einen anderen erwählt hatte.

Aufklärung war nötig. Aber nach der Aufklärung, und nach den vielen Schocks, die immer wieder viele Menschen dazu bewegt haben, sich den religiösen Weisheiten (leider oft auch: den eher illusionären religiösen Tröstungen, die man mit den religiösen Weisheiten nicht verwechseln soll) wieder zu zuwenden, wie kann man da mit dem Problem von Erwählung und Ressentiment fertig werden, ohne wiederum in Ressentiment auszubrechen (denn daß wir das nicht wollen, deklamieren wir schließlich seit mehr als 150 Jahren)?

III

In diesem letzten Abschnitt werde ich versuchen, aus den Hinweisen, die an verschiedensten Trümmern, die ich nach allem auf dem Trümmerfeld der Moderne finde, zu lesen sind, eine kleine Botschaft zum Thema Überlegenheit und Unterlegenheit in religiösen und kulturellen Angelegenheiten zusammenzutragen, in der die vernichtende Selbstauslieferung ans Ressentiment nicht den Sieg behält - nicht weil man sich das Nichterwähltsein schöner geredet hätte als es wäre oder sich eine Erwähltheit anmaßte, sondern weil man tatsächlich selbst so viel erwählt wie man kann, und denen, die zu mehr erwählt sind, dieses nicht mißgönnt.

Erstes Stück:

In der Sammlung Rosengart in Luzern hängt eines  der erstaunlichsten Bilder von Paul Klee mit dem Titel "Kindheit des Erwählten" vom Juni 1930. [10] Es zeigt ganz rechts im Bild ein Kind mit finsterem Gesicht, gelbem Hemd und Blut an seinen Füßen, das - so jedenfalls die Richtung dieser Füße, das Gesicht ist den Betrachtern zugewandt - im Begriff ist, nach rechts aus dem Bild zu gehen. Der Boden unter seinen Füßen sieht rot aus wie die Füße, sehr dunkel und etwas rötlich ist auch so etwas wie die oberste Schicht des Himmels, die die hellgraue Grundfläche des Bildes in geschwungener Linie begrenzt. Die Mitte des Bildes ist rot und rund und scheint so etwas wie eine Swastika als Zentrum eines stilisierten Schneckenhauses darzustellen. [11] Umgrenzt ist diese Figur von einem an eine Gebärmutter erinnernden Gebilde, das sich mit etwas wie Lippen oder Beinchen zum linken unteren Bildrand hin öffnet, an beiden Seiten dieser Öffnung ist etwas wie dunkles Gras zu sehen, das oben eine Art Busch bildet, unten aber eine Wiese anzudeuten scheint, in deren Grün das Rot von den Füßen des Kindes einsickert. Es ist sicher nicht falsch, in dieser zentralen Figur so etwas wie ein Muttersymbol zu sehen.  Zwischen dieser Figur und der dunkleren Himmelslinie ist auf der linken Bildseite im oberen Drittel ein Hexagram aus bläulichen Linien zu sehen, etwa von derselben Größe wie der innerste Kreis um die verbogene, zerdrückte Swastika. Das Hexagram selbst ist die klarste Figur in dem Bild. Der Blauton, der seine  dunklen Linien umgibt, kehrt wieder in einer senkrechten Linie, die, aus der Wiese kommend, zwischen den Beinen des Kindes auf der rechten Bildseite verläuft und so einerseits aussieht, als würde sie gerade überschritten, andererseits von unten ins Zentrum seines Leibes zielen. Der Kopf des Kindes ist ein wenig wie eine Schneckenlinie geformt und dick umrotet. Auf der Brust des mit einem gelben Hemd bekleideten Kindes ist die Andeutung eines Kreuzes. Die helle Sphäre, in der links der Stern ist, den man wohl mit einem abstrakten väterlichen Prinzip in Verbindung bringen darf, ist nach links und rechts nur durch den Bildrand begrenzt. Es sieht so aus, als ob das Kind, noch im Schatten von jenem etwas, das wie ein mütterlicher Leichnam aussieht, doch im Begriff sei, aus diesem Schatten ins Licht zu gehen, dann nicht nur den mütterlichen Klumpen, sondern auch die konkrete Form, in der das Hexagram Abstraktheit und Geistigkeit symbolisieren könnte, hinter sich lassend. So weit kann man vielleicht einfach nur eine Darstellung des Problems Kindheit in dem Bild sehen, das insofern auch zusammen gesehen werden kann mit einer Reihe von Bildern aus dieser Zeit, in der Klee sich mit dem Thema Kindheit beschäftigte. Wie aber kommt die Erwählung in den Titel?

Im Aufriß dieses Textes hatte ich für Nichterwählte die Möglichkeit, sich einfach abzuwenden, in Erwägung gezogen, die aber voraussetzt, daß der Ewählende nicht von bleibender vitaler Bedeutung für den Nichterwählten ist. In Bezug auf Kain und Abel hatte ich als eine Möglichkeit für den Nichterwählten, dem tödlichen und mörderischen Neid auf den Erwählten etwas entgegenzusetzen, die Rebellion gegen den Erwählenden und die Annahme jener im Gedicht von Dan Pagis beschworenen mütterlichen Geste vorgestellt.

Klees Bild ist nun ein modernes, vielleicht schon ein nachmodernes. Denn der, der das Bild verläßt, ist ja nicht der Nichterwählte, sondern der Erwählte, nicht einer, der sich selbst erwählt, wie dies bei Kierkegaard hieß, sondern einer, der erwählt worden ist. Dieser verläßt die blutig und sumpfig dargestellte  Sphäre des Mütterlichen, um in einen lichteren Raum zu gehen, der durch ein väterliches Symbol eröffnet wird, aber über dieses hinauszuführen scheint. Seine eigene Farbe, das Gelb, ist ganz bei ihm und nur bei ihm, hat nichts vom mütterlichen Rot und nichts vom väterlichen Blau, durch das das rote Mütterliche begrenzt wird. Zwar ist von alledem etwas an seinem Kopf und seinen Gliedern, aber das Kind selbst trägt in seiner Mitte am Leib eine Farbe, die sonst nirgends vorkommt. Als "modern" könnte man die Bewegung bezeichnen, die Hans Blumenberg so treffend in der Rebellion des Nichterwählten und ihrem Realismus erkannt hat, als "modern" auch die Selbsterwählung zum ethischen Leben wie sie bei Kierkegaard zu lesen ist. Als "nachmodern", genauer eigentlich, als "nachpsychologisch", denn diese Einsicht ist wesentlich psychologisch, kann man diejenigen Kunstwerke und Texte auffassen, die sich damit abplagen, daß man die Freiheit, sich abzuwenden, gerade eher erwirbt, wenn man erwählt wurde, als wenn man nicht erwählt wurde.

Ich will dazu ein anderes Trümmerchen beibringen:

Zweites Stück:

Auf welche besondere Gelegenheit warten Sie eigentlich, um diese Tür zu öffnen? Warum entschließen Sie sich zum Beispiel nicht, sie schon heute Abend zu öffnen?
SIE Nein so allein könnte ich das nicht.
ER Wollen Sie damit etwa sagen, dass Ihnen das nichts nutzen würde, weil Sie arm sind und nichts gelernt haben? Daß Sie allein immer so weitermachen mussten!
SIE Ja, das will ich sagen und noch etwas anderes. So allein bin ich... ja, ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll... beinahe wie meiner Sinne beraubt. Allein könnte ich nichts an meinem Zustand ändern. Ich werde regelmäßig weiter zum Tanzen gehen, und eines Tages wird ein Mann mich bitten, seine Frau zu werden, und dann werde ich es tun. Aber vorher könnte ich das nicht.
ER Wie können Sie denn wissen, dass da so etwas wie ein Verhängnis ist, wenn Sie noch nie versucht haben, etwas dagegen zu unternehmen?
SIE Ich habe es versucht. Und seitdem weiß ich es. Ich weiß, dass ich allein... ja, eben wie meiner Sinne beraubt bin. Nein, es muß mich erst einer erwählt haben. Dann werde ich auch die Kraft haben, mein Schicksal zu ändern. Ich behaupte nicht, dass das für alle Menschen gilt. Ich sage nur, dass es für mich gilt. Ich habe es schon einmal versucht, und ich weiß es. Sie verstehen doch, nicht wahr, Sie verstehen, dass ich nie von irgendeinem Menschen erwählt worden bin - man hat nur meine unpersönlichsten Fähigkeiten in Anspruch genommen und mich zu einem Wesen gemacht, das so gut wie gar nicht existiert. Und darum muß ich einmal, ein einziges Mal, erwählt werden. Wenn das nicht geschieht, bin ich sogar in meinen Augen so wenig vorhanden, dass ich nicht einmal den Wunsch verspüre, auf eigene Faust eine Wahl zu treffen... Deshalb bin ich ja so versessen aufs Heiraten, verstehen Sie?
ER Ja, sicher. Aber ich begreife trotzdem nicht, wie Sie darauf hoffen können, erwählt zu werden, wenn Sie selbst nicht wählen können.
SIE Ich weiß, es mag unmöglich erscheinen, aber trotzdem muß es geschehen. Denn wenn ich mir selbst die Wahl frei ließe, dann würden mir alle Männer recht sein, alle, unter der einzigen Bedingung, dass sie mich ein wenig gern haben. Ein Mann, der mich beachten würde, käme mir schon deshalb begehrenswert vor. Woher soll ich denn wissen, welches der richtige Mann für mich ist, da mir doch alle Männer gefallen würden, die sich meiner ein wenig annähmen? Nein, man muß erraten, was für mich am besten ist, - ich selbst kann es nicht wissen.
ER Aber sogar ein Kind weiß doch, was es haben möchte.
SIE Ich bin aber kein Kind, und wenn ich so tät, als wäre ich eins und mich dieser Freude hingeben würde, die durch alle Straßen läuft, dann würde ich mit dem ersten besten gehen, der mich haben wollte, und der bei mir auch nur das Vergnügen sucht, das ich bei ihm suche. Und dann wäre ich ganz und gar verloren.
ER Aber haben Sie nie daran gedacht, dass diese Wahl, die ein anderer für Sie vollzieht, vielleicht doch nicht das Richtige sein könnte und dass dieser andere später dabei unglücklich werden könnte?
SIE Ich habe schon einmal daran gedacht; aber bevor ich überhaupt etwas begonnen habe, kann ich nicht schon an das Unglück denken, das ich möglicherweise später anderen zufüge. Ich sage mir nur das eine: Wenn alle Menschen in Ihrem Leben mehr oder weniger Böses tun, indem sie eine Wahl treffen und sich irren, - wenn das unvermeidlich ist - ja, dann muß ich es eben auch ertragen. Ich werde auch schlimme Tage ertragen können. [12]

In diesem kleinen Stück von 1955 (von manchen als ein wichtiger Wendepunkt im Werk von Marguerite Duras charakterisiert, aber wir treiben hier nicht Literaturwissenschaft) wird genau das Problem der Herrschaft diskutiert, das einer, der wählt, ausübt über denjenigen, der sich auf seine Wahl angewiesen fühlt. Beschrieben wird es aber aus der Perspektive einer, die "noch nicht erwählt worden" ist und nichts anderes wünscht, als der Wahl, die ein anderer trifft, treu sein zu dürfen. Diese Frau hält aber noch ihre Freiheit, einer solchen Wahl auch untreu und von ihr frei zu werden, für daran gebunden, daß sie überhaupt erst einmal erwählt worden wäre. Noch die Freiheit, zwischen gut und böse zu unterscheiden, wäre gebunden an die Voraussetzung, überhaupt erst einmal als Angesprochene in der Welt und also erwählt zu sein.

In einem sehr psychologischen Verständnis, und wenn man den Dialog aus der Sphäre der Paarbeziehung (in der es in jenem Dialog im Park ist) in die familiäre Beziehung von Eltern und Kindern übertrüge, wäre dies ganz leicht nachzuvollziehen; jeder weiß inzwischen, daß die Menschen, die von ihren Eltern Zuwendung und Anleitung oder Erziehung im besten Sinne erfahren haben, sich relativ frei entwickeln können, während die Menschen, deren Eltern nicht wählen konnten, sich ihren Kindern zuzuwenden, ihr Leben lang in einer inneren Unfreiheit verharren, aus der sie sich nur mit großer Mühe und viel Glück freikämpfen können.

Wie nun? Hinsichtlich der Geschichte von Kain und Abel hatte ich vermutet, es sei das Problem, das Frauen unter den Bedingungen der Polygamie mit Herrschaft und Wahl haben, aus der Sphäre der bereits nach Zahlen ungleichen Paarbeziehung in die Sphäre der rein männlichen Konflikte zwischen Söhnen um die Gunst eines Vatergottes übertragen worden. Hier vermute ich, daß ein Problem aus der Vater-Mutter-Kind-Sphäre in die Rede über die Freiheit der Frau in einer Paarbeziehung übertragen worden wäre?

Ja. Selbstverständlich sagen beide Texte auch über die Sphären, in denen sie jeweils angesiedelt sind, etwas sehr Wesentliches aus, und von dem je anderen Text aus fällt ein gewisses Licht auf die Möglichkeiten und Grenzen der Aussage des anderen, wenn man denn für einen Moment die Grenzen der Disziplinen und Methoden ignoriert und einfach zwei kurze Szenen miteinander vergleicht. Der biblische Text weist auf die Unmöglichkeit des Nichterwählten, sofern er dennoch dem erwählenden Gott verpflichtet bleibt, dessen Rat zu folgen und sich ganz auf seine Sache zu konzentrieren, ohne zur Seite zu schauen. Bzw., sobald er sich ganz auf seine Taten konzentriert und nicht auf Bruder und Vatergott schaut, ist auch bereits der Keim zur Rebellion gegen diesen und zur Gleichgültigkeit gegen jenen gelegt. Dem Rat Gottes, den Kain vor seiner Tat empfangen, aber ignoriert hat, hätte er überhaupt erst folgen können, nachdem er von Gott dazu erwählt worden war, den ersten Buchstaben zu empfangen, oder nachdem er sich von seinem eigenen Interesse an der Aufmerksamkeit Gottes so weit freigemacht hätte, daß er selbstbewußt von sich aus für das Gute entschieden hätte. [13] Insofern ist diese Geschichte innerhalb einer Eltern-Kind-Konstellation lehrreich, auch wenn die annehmende und einen sicheren Platz garantierende Mutter fehlt, die die ganze Szene möglicherweise entschärft hätte. Daß sie aber fehlt, und daß der Konflikt so ausschließlich in der Rivalität um einen bleibt, das spricht in meinen Augen dafür, daß hier die polygame Situation mit durch Plural untergeordneten Frauen im Hintergrund steht, in der dann auch eine drastische Durchsetzung gegen die Rivalin und eine flehentliche Offenbarung der eigenen Ohnmacht gegenüber dem herrschenden Einen auf irgendeine Weise zugleich gratifiziert und bestraft wird.  

Die Szene bei Duras ist ebenfalls von der Situation beherrscht, in der es keine selbständige Frau gibt, die Frau muß, wie man im Deutschen sagen kann, "gefreit" werden durch den, der sie erwählt, bevor sie in eine Existenz kommen kann, in der sie nicht der elterlichen Welt  vollständig subsumiert ist. Daß dies aber für die Frau im Dialog von Duras anders ist als für den Mann, hängt, wenn man wiederum psychologisch-statistisch spricht, genau damit zusammen, daß sie in der Regel von ihren Eltern eben nicht die Erwählung erfährt, die männlichem Nachwuchs zuteil wird. So erfährt sie die Abhängigkeit von der Erwählung, die beim männlichen Kind in der Kindheit gelöst werden konnte, weil Erwählung gewährt war, noch im erwachsenen Bewußtsein schärfer und kann sie formulieren - in Widerrede zum Selbstbewußtsein des unabhängig nomadisierenden Mannes, der zu glauben scheint wie der J des jahwistischen Textes, daß unabhängig von der Erwählung durch einen anderen die Wahlmöglichkeit selbst dadurch in die Welt komme, daß man selbst wählt.

Die in beiden Geschichten oder Szenen problematisierte Frage ist letztlich die der Passivität der Menschen gegenüber einem Wesen, das sie erwählen müßte. Dabei scheint die Frau in der Szene von Duras ihre Erwählung noch zu erwarten und deswegen nicht von Neid geplagt zu sein, während Kain von der Enttäuschung über sein Nichterwähltsein in den Mord getrieben wird. Ist nun die Frau in der Erzählung von Duras, die ihre Erwählung ergeben erwartet, eine mögliche Gläubige jener "Religion für Erwachsene", die Levinas im Judentum sieht?

Heißt "Erwachsensein" in religionibus, daß man neidlos und gutwillig damit zurechtkommt, nicht erwählt zu sein und dennoch diejenigen zu ehren, die erwählt wurden? Und wenn das so wäre, sollte dann nicht eine solche Religion ohne das Selbstbewußtsein der Erwählten auskommen, auch noch ohne das Selbstbewußtsein derjenigen, die zum Leiden um aller anderen Willen auserwählt wären?

Dem üblichen Gemaule über den sogenannten Skandal der Erwähltheit des jüdischen Volkes kann ich mich nach allem wahrhaftig nicht mehr anschließen. Allerdings kann ich auch nicht sagen, daß mir der Gedanke, jener Eva, deren Nichtausredendürfen Dan Pagis so eindringlich vorstellt, zu sagen, sie sei wie alle anderen ermordeten Juden als Auserwählte zur Erleuchtung aller anderen ermordet worden, besonders sympathisch wäre.

Es wäre doch eine andere Aufklärung dieser Frage vonnöten. Ich will mich ihr in einem für diesen Text letzten Anlauf nähern.

IV

Alles, was ich bisher gesagt habe, blieb ja im Bereich des Familiären und elementarer psychodynamischer Spekulationen. [14] Die göttliche Figur erscheint als eine elterliche, die einerseits Gerechtigkeit unter den kindlichen Menschen, andererseits ein ursprüngliches Ja zu den ebenfalls kindlichen Menschen bereitstellen soll. In diesem Erfahrungsbereich, so scheint es, liegen die emotionalen Kräfte, die in den monotheistischen Religionen eine scharfe Rivalität um die Gunst eines gemeinsamen Gottes antreiben. In dieser Rivalität versucht jede Religion, die erwählte zu sein, die jüdische Religion, indem sie eben Israel als das seit der Bibel erwählte Volk Gottes ansieht, die christliche, indem sie im verus-Israel-Dogma behauptet, die Erwählung sei nunmehr auf sie übergegangen, und die islamische, indem Mohammed als das Siegel der Propheten und also als Träger der letztgültigen Offenbarung angesehen wird. Wenn aber insbesondere eine der Nachfolge-Religionen sich ihrer eigenen Erwähltheit nicht so sicher ist, weil da noch die Angehörigen der erhalten gebliebenen Vorläuferreligion sind, die ihrerseits viel sicherer zu sein scheinen, daß sie die Erwählten sind, dann steigert sich unter vielen falschen Voraussetzungen das  Ressentiment gegen den Erwählungsgedanken der jüdischen Religion leicht ins Unermeßliche. Das alles ist noch nachvollziehbar, solange sich die monotheistischen Religionen gemeinsam als diejenigen begreifen, die um den eigentlichen Ring der wahren Religion streiten, den ihnen der gemeinsame Gott vererbt haben soll.

Nun haben aber das Ressentiment und seine Voraussetzungen auch die Aufklärung bisher anscheinend ganz unangekränkelt überlebt. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit kann man von den säkularisiertesten liberalen Westmenschen hören, daß die Juden mit ihrem Erwählungsgedanken ja geradezu den Antisemitismus provoziert hätten.

Das scheint gegen die zu Anfang dieses Essays geäußerte These zu sprechen, daß eigentlich gerade diejenigen, die sich auf einen gemeinsamen Gott beziehen, Grund haben, einander die Erwählung zu neiden, denn nur wenn der erwählende Gott auch meiner ist, und zwar einer, dessen Erwählungsverhalten ich passiv und unsicher ausgeliefert bin, kann es mich doch anfechten, wenn er einen anderen als mich zu erwählen scheint. In dem Augenblick, in dem die Aufklärung eine Emanzipation von solcher Haltung gegenüber dem willkürlich erwählenden Gott versprach, könnte doch dieser Grund für den Erwählungsneid unbedeutend geworden sein. Aufgeklärte Nichtjuden könnten es sich egal sein lassen, ob ein paar unaufgeklärte und machtlose Juden sich noch für auserwählt halten, der gesamten Welt ihr Licht zu bringen, und aufgeklärte Juden könnten sich von der Zwangsvorstellung, für die ganze Welt leiden zu müssen, befreit haben.

In der Zeit der Assimilation müssen sich auch relativ viele Juden und einige Nichtjuden in Europa in der Vorstellung gewiegt haben, so sei es. Nach dem Zusammenbruch der europäischen Assimilation unter dem Terror Nazideutschlands macht dann Hannah Arendt die folgende Beobachtung:

Drittes Stück:

"Was Palästina anlangt, so haben Sie vollkommen recht: Das ist in der Tat die einzige konsequente Assimilation, die je versucht worden ist. ... Die Zionisten sind die einzigen, die man in dieser Hinsicht ernst nehmen kann. Sie - und nicht die Assimilanten - sind auch die einzigen, die nicht mehr an das auserwählte Volk glauben. ... Wesentlich ist vor allem, daß große Teile des Volkes, nicht nur in Palästina, nicht nur Zionisten, Überleben als Ziel des gesamten Volkslebens ablehnen und zum Sterben bereit sind. Das ist ganz neu. Zweitens aber besteht ein schwer zu beschreibender Widerwille gegen die Idee vom auserwählten Volk. Man könnte sagen, die Juden haben es satt. Dies ist nicht eine Ideologie wie beim Zionismus, sondern eine Volksstimmung." [15]

Nicht länger die Bürde der Absonderung zu tragen, die dem ewigen Volk auferlegt war, um die Menschheit an ihre Bestimmung zu erinnern, nicht mehr zugunsten dieser Ewigkeit auf die relative Sicherheit und Bequemlichkeit eines partikularen und endlichen Staat zu verzichten, schien für Hannah Arendt eine Art von Genesung zu bedeuten, Genesung von der Idee, unsterblich sein zu müssen, Anerkennung der Sterblichkeit auch als Volk. An der Idee des auserwählten ewigen Volkes festzuhalten, schien zu viele Opfer gefordert zu haben, darum - so ihre Beobachtung einer Volksstimmung in Palästina - sollte nun die Idee, ein Volk unter anderen in einem Staat unter anderen zu sein, das jüdische Volk vor weiteren Massakern schützen.

Und doch habe ich, als ich dies zum ersten Mal las, gedacht: hoffentlich hast du nicht recht. Ich beobachtete mich dabei zu wünschen, daß wenigstens die Juden auch als Volk an der Idee eines ewigen Gutes im Sinne jenes Erwählungstheorems, wie ich es oben formuliert habe, festhalten möchten, einem Theorem nämlich, das gerade der Opferlogik, wie sie durch die Geschichte des Erwählungsgedankens geistert, entgegengesetzt und vielleicht deswegen unverzichtbar mit ihr verknüpft ist: Nur wer riskiert, sich abzusondern oder abgesondert zu werden, kann in aller Konsequenz das Nein zum Morden durchhalten, jenes Nein, ohne das es keine menschliche Gemeinschaft geben kann. Ich hoffte, daß man vielleicht gerade als Nichterwählter gerade von den Erwählten lernen könne, wie man den faktischen Ungerechtigkeiten der Welt widersteht, ohne selbst ungerecht zu werden.

Was J von Kain in Gen 4,6f verlangt, bleibt dann auch da wichtig, wo wir die Sphäre der familiären Konflikte, in die es gesagt ist, verlassen. Hindurchgegangen durch einen Prozess der Emanzipation von einem etwas haustyrannischen Gott können wir vielleicht gerade als Nichterwählte darauf verzichten, allzu mißgünstig auf das zu schielen, was sich zwischen diesem Gott und seinem Volk abspielt. Wir könnten uns selbst als "ethische Subjekte" wählen und damit zurechtkommen, daß unsere Religionen möglicherweise der alten weisen Religion, von der sie sich mal abgesondert haben, unterlegen geblieben sind. Wir könnten darauf verzichten, dieses Unterlegenheitsgefühl durch Gesten prahlerischer †berbietung zu kompensieren oder es loswerden zu wollen, indem wir versuchen, etwas zu sein, das wir nicht sein können.

Als jemand, die getauft worden ist, bevor es irgendetwas für mich zu wählen gab, und hineingeboren in ein Volk, in das man nach 1945 lieber nicht hineingeboren worden wäre, hatte ich wie viele andere vermutlich eher wenig Wahl in religiösen Angelegenheiten. Ich kann nun natürlich sagen, ich sei eine Kosmopolitin und dieses Ideal hochhalten und jedem auf die Finger klopfen, der mich an meine provinzielle Herkunft erinnert oder ganz unkosmopolitisch verantwortlich macht für etwas, in das vielleicht nicht einmal meine unmittelbaren Vorfahren besonders schwer verwickelt waren. Aber spätestens, wenn ich dann einen zum Islam konvertierten Schwaben sehe, dessen noch so perfekt arabisch klingende Koranzitate mir nicht den Eindruck nehmen, daß hier einer der deutschesten Deutschen spricht, die ich je gesehen habe, wird das doch ein wenig lächerlich. Dennoch kann es sein, daß ich Paulus (der Kain mit keinem Wort erwähnt) nicht besonders mag, aber mit Kierkegaards Auslegung von Röm 8, 28 und vielem anderen doch etwas anfangen kann, es kann sein, daß ich Kierkegaard dem Hegel vorziehe und beiden Heine und Rosenzweig (die sich miteinander kaum vertragen), daß ich die rabbinische Literatur in vielem spannender finde als das Neue Testament und die ethische Weisheit des Judentums gegenüber dem christlichen Vermoralisieren  des Glaubensaktes für weit überlegen halte. Ich könnte sagen, gut, ich akzeptiere euer Licht und werde jüdisch. Aber mir scheint, ich würde es dann gerade verfehlen, und zwar aus einem Grund, der nichts mit Blut oder Taufe zu tun hätte, sondern einfach damit, daß ich etwas, das nicht in meiner Hand liegt, behandeln würde, als wäre es in meiner Hand. [16] Das Minimum an Absonderung, das einfach durch den Umstand erzwungen ist, daß man sich in die erste, bestimmende Kultur so wenig selbst hineinwählen kann wie in eine genetische Ausstattung, verbürgt auf ähnliche Weise die Allgemeingültigkeit der multikulturellen Situation wie die Bereitschaft zu ziemlich gravierender Absonderung die Allgemeinheit jedes gewählten Nein zum Morden verbürgt. Um eine Vielfalt von Religionen zu erhalten, ist es geradezu erforderlich, daß selbst noch einige Angehörige sogenannter polytheistischer Religionen in geradezu "monotheistischer" Treue zu ihrer jeweiligen Religion stehen. Eine solche Treue zur eigenen Religion entbindet sich nicht von kritischer Auslegung und Beurteilung der Traditionsbestände und kann durchaus feststellen und ertragen, daß eine andere Religion der eigenen auf allen möglichen Gebieten überlegen ist.

Der Grund, aus dem man der eigenen Religion treu bliebe, wäre nicht der, daß diese in jeder Hinsicht besser wäre als die anderen, sondern der, daß man als Mensch unter dem Dach dieser bestimmten Religion zum Leben bestimmt oder erwählt worden ist in dem Sinne, in dem die Kindfrau im Text von Duras erwählt zu werden hofft. Diese primäre Erwählung muß nicht notwendig neidische Nichterwählte zurücklassen, erst recht fördert sie nicht die Mißgunst gegenüber anderen, die woanders erwählt wurden. Sie erlaubt vielmehr erst jene Freiheit, die Kain nicht hatte: die Freiheit, sich von den Autoritäten, die das Recht zu erwählen beanspruchen, auch abzuwenden. In dieser Freiheit der primären Erwählung (die in Pagis Gedicht durch die Worte "mein anderer Sohn" ausgesprochen ist) kann man, protestantisch gesprochen, so lange der je eigenen Religion treu bleiben, wie man den Eindruck hat, diese verstoße nicht per se gegen die Menschlichkeit. Man kann, mit anderen Worten, der je partikularen Religion treu bleiben in einer Weise, die durch ihr Universalisierbares teilhat an etwas, das man vielleicht einen Prozeß der Erwählung nennen könnte, in dem das Erwählte und das Nichterwählte ihren je eigenen Wert haben. Erst durch eine solche aufgeklärte oder aufklärbare Treue, so scheint mir, wird der Gedanke erträglich, daß man möglicherweise in Wirklichkeit niemals von irgendjemandem erwählt wurde, nicht einmal von Gott selbst.



[1] Dieser Text ist die deutsche Version eines in englischer Sprache gehaltenen Vortrags auf der Konferenz "A Covenant to the People, a Light to the Nations", Mai 2005, McMaster University. Das Problem von friedlicher Unterlegenheit beschäftigt mich auch in zwei demnächst erscheinenden anderen Texten, das von friedlicher Uberlegenheit in einem bereits publizierten. Gemeinsam ist diesen Texten außer diesen Begriffen nur die Formel, die ich für das Universalisierbare des jüdischen Erwählungsgedankens halte und die in diesem Text wie in den anderen kursiv gesetzt ist.

[2] "Ach ja, der Skandal der Erwähltheit des jüdischen Volkes! Ist sie Skandal der †berheblichkeit und des Willens zur Macht, oder ist sie das Gewissen selbst, das aus immerzu dringlichen, nie nachlassenden Verantwortlichkeiten besteht und als erstes antwortet, als wäre es ganz alleine gerufen worden?" [2]

[3] Vgl. (noch vorhanden am 25.2.06) den Beitrag http://www.satirewire.com/news/march02/chosen.shtml

[4] Jan Assmann hat in seinem Buch Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus (München/ Wien 2003) den Begriff der Intoleranz der Opfer eingeführt, S. 34f. Die komplizierte Debatte über Assmanns Thesen wird im von mir herausgegebenen Buch "Problem Monotheismus" (vorauss. Tübingen 2006) weitergeführt

[5] The Book of J, translated from the Hebrew by David Rosenberg, interpretated by Harold Bloom, New York 1990, S. 188. Natürlich habe ich ein paar vernichtende Kritiken über Blooms Buch gelesen, etwa die von Christopher Seitz, und ich stimme wahrhaftig nicht mit allen Aussagen Blooms überein, aber ich habe erst recht keinen Geschmack daran, daß eine Bibel-Wissenschaft, die gerade wenn man sich in ihre Details begibt und ihr Handwerk gelernt hat, genauso zweifelhaft wie respektabel ist, empört aufkreischt, nur weil ein kreativer Kopf ihr mutwillig eine Figur entreißt und diese einmal gut dastehen läßt. Wenn Seitz schreibt "Wellhausen goes Yale", dann bedient er sich genau jenes Sprachgestus, den er an Bloom kritisiert, seinerseits selbstverständlich ironisch, und dieses war mein letzter eigener Beitrag für diesen Text zu den einen wissenschaftlichen Text als wissenschaftlich ausweisenden Fußnotenscharmützeln. Mir scheint, das Vereinshaus, in dem solche Spiele gespielt werden, steht kurz vor dem Abriß, und aus den Trümmern wird man vermutlich Blooms Werk lieber ziehen als das eines Wellhausen-Kritikers der 25. Generation. Warum? Weil die Menschen in Trümmerzeiten nicht nur starke Figuren aus Trümmerzeiten brauchen, sondern weil sie manchmal auch erst in Trümmerzeiten verstehen, was ein deutscher Gelehrter des 19. Jahrhunderts für sich und alle seine künftigen Zöglinge aus dem Horizont seines Interesses verbannen mußte. Trotzdem ist die Kritik von Seitz selbstverständlich brillant, man kann sie nachlesen unter http://www.religion-online.org/showarticle.asp?title=24. (25.2.2006)

[6] Ich werde im folgenden den göttlichen Hauptdarsteller der Geschichte J nennen, um einerseits klarzumachen, daß ich hier über eine literarische Figur spreche, andererseits die immer irgendwie irgendetwas bekennenden verschiedenen Möglichkeiten, den Gottesnamen zu schreiben, ohne ihn zu schreiben, bei bleibendem Respekt vor dem Tabu zu umgehen. Da ich hier nicht mit den verschiedenen Quellen der Bibel arbeite, ist eine Verwechslung mit dem Autor so ausgeschlossen.

[7] Das hat vermutlich niemand schöner formuliert als Heinrich Heine in zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland: "Es stehen überhaupt noch viele schöne und merkwürdige Erzählungen in der Bibel, die ihrer Beachtung wert wären, z.B. gleich im Anfang die Geschichte von dem verbotenen Baume im Paradiese und von der Schlange, der kleinen Privatdozentin, die schon sechstausend Jahre vor Hegels Geburt die ganze Hegelsche Philosophie vortrug. Dieser Blaustrumpf ohne Füße zeigt sehr scharfsinnig, wie das Absolute in der Identität von Sein und Wissen besteht, wie der Mensch zum Gott werde durch die Erkenntnis, oder, was dasselbe ist, wie Gott im Menschen zum Bewußtsein seiner selbst gelange. - Diese Formel ist nicht so klar wie die ursprünglichen Worte: "Wenn ihr vom Baume der Erkenntnis genossen, werdet ihr wie Gott sein!" (zitiert nach der vonW. Harich herausgegebenen Ausgabe Frankfurt 1965, S. 59).

[8] Auch die …ffnung, an der die Sünde lauert, deutet vielleicht auf eine ursprüngliche Anrede an eine Frau.

[9] Daß es eine mutterlose Kultur war und ist, die den Massenmord hervorgebracht hat, wird nicht dadurch widerlegt, daß es in NS-Deutschland eine scheinbare Aufwertung der Mütter gegeben hat. Denn diese Aufwertung war doch die Aufwertung der Opfermutter, die dem Vaterland ihre Söhne zum Fraß heranzüchtet, etwas, das sich auf bizarre und jeden Betrachter beschämende Weise zu wiederholen scheint in dem bewußtlosen Gerede etwa einer Umm Nidal. Ich rede hier aber von einer annehmenden Mutter, die ihre Kinder sein läßt, nicht von einer ihre erlittenen und verleugneten Kränkungen durch Hochblablahen von Kindsopfer kompensierenden Kriegermutter.

[10] Ich danke Frau Dr. Rosengart für die freundliche Bereitstellung einer Kopie dieses Bildes sowie für ihre hilfreiche und freundliche Beantwortung meiner Fragen.

[11] Klee hatte sich in seinen Jahren am Bauhaus in Weimar mit der Swastika, die zeitweilig im Bauhaus-Logo zu sehen war, auf teils parodierende und stark verfremdende Weise beschäftigt. 

[12] Marguerite Duras, Gespräch im Park, aus dem Französischen von Gerda von Uslar, in: Dies. Dialoge FfM 1966, S. 7-78, hier S. 38ff.

[13] Genau dies bringt, wie ich glaube, das Buch Hiob zu vollendeter Darstellung, indem es zeigt, wie Hiob gegen die Versuchung durch Gott und Satan und gerade in seiner Anklage gegen Gott an einem Guten festhält, von dem kein anderer als Gott selbst abgewichen ist. Vgl. dazu mein "Some Thoughts on Surrender".

[14] Diese sind auch in Religionen immer angesprochen und erstaunlichrweise oft weit unterschätzt, wenn es um Auseinandersetzungen zwischen Religionen geht. Das ist umso erstaunlicher, als gerade in dem gegenwärtig immer wieder zum Kampf der Kulturen stilisierten Konflikt das Problem der Rechte der Frauen eine große Rolle spielt, ein Problem, bei dem es um nichts anderes geht als um den richtigen Weg, männliche und weibliche Selbstbewußtseine zu kultivieren und mit den Offenheiten der zweigeschlechtlichen Gebürtlichkeit der Menschen umzugehen. Es scheint mir so, als würde man auf fast allen Seiten in diesen Debatten die Auseinandersetzung mit den entsprechenden Quellentexten und den eigenen Schmerzen an diesen Stellen vermeiden, um jeweilige "Sicherheiten" von Erreichtem nicht für sich zu gefährden: also die muslimischen Frauen, die sich mit einer gewissen Kränkung abgefunden haben, wollen das Minimum an Selbstachtung, das sie auf komplizierte Weise errungen haben, nicht gefährden, indem sie sich westliche Emanzipationsideale zu eigen machen, die westlichen Multikulturalisten wollen ihre mühsam erlernte Gastfreundlichkeit nicht gefährden, indem sie auf eklatante Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Migrantenpopulationen hinweisen, Islamisten wollen ihren mühsam errungenen antiwestlichen Stolz nicht riskieren, indem sie die "fremde Sitte" der Emanzipation in ihre eigene Kultur integrieren usw. Dabei wäre vermutlich, wenn man überhaupt die Probleme der Kränkungen etwas mutiger anfaßte, für alle Seiten einiges zu gewinnen.

[15] Hannah Arendt, Karl Jaspers, Briefwechsel 1926-1967, hrsg. v. Lotte Köhler und Hans Saner, München/Zürich 1985, Brief 61 vom 4.9.1947, S. 135.

[16] Die Lächerlichkeit der Konversion, die durch eben diesen Gestus hervorgerufen wird, scheint mir allerdings nicht für alle Konversionen zu gelten, sicher nicht für die, die unter gesellschaftlichem Druck oder gar Gewaltandrohung erfolgen. Ich möchte hier keiner allgemeinen und billigen Konvertitenschelte das Wort reden, sondern nur die möglichen Argumente für die Treue zum nicht selbst Gewählten durchdenken.