Michael Zank

Blasphemie in Staat und Religion, Christentum und Judentum

 

I.

Gibt es in der säkularisierten Gesellschaft noch so etwas wie Blasphemie? Oder handelt es sich beim Thema der Gotteslästerung nur um eine “alte bayrische Gesetzeskamelle”, wie es jemand im Rahmen der ersten Lesung einer Gesetzesvorlage der CDU vom 8. Februar 2001 zur Novellierung des Paragraphen 166 StGB ausdrückte, des Paragraphen also, der den Tatbestand der Blasphemie in Deutschland strafrechtlich regelt?[1] Bei der Gesetzesvorlage zur Verschärfung des Paragraphen 166 ging es nicht etwa um die Beobachtung einer Zunahme ungeahndeter Respektlosigkeiten gegenüber der Religion überhaupt bzw. gegenüber irgendwelchen Religionen, also nicht um ein Pendant zum political correctness. Vielmehr ging es um die Frage, ob das Christentum noch immer die Religion der Mehrheit der deutschen Bürger darstelle und schon deshalb einen besonderen Schutz vor Verunglimpfung verdiene. Die Diskussion über das Religionsdelikt der Gotteslästerung betraf daher nicht nur die christliche Religion als solche, sondern deren Rolle im Zusammenhang der nationalen Identität. Diese Verknüpfung von Religion und nationaler Würde weist darauf hin, dass wir es bei der Blasphemie mit einer Sache zu tun haben, die sowohl die Religion und daher das Verhältnis von Kirche und Staat betrifft, als auch in Fragen der kollektiven Identität hineingreift. Dass es in einem modernen Staatswesen wie dem deutschen noch so etwas wie eine Blasphemiegesetzgebung gibt, kann aber nur den überraschen, der das Ideal des säkularen Staates mit der Vorstellung einer vollständig säkularisierten Gesellschaft verwechselt. Eine solche existiert nur in unseren Begriffen, nicht aber in Wirklichkeit.

 

II.

Blasphemie hat etwas mit der Differenz zwischen dem Heiligen und dem Profanen zu tun, einer Unterscheidung, die das menschliche Verhalten in seinen vielen kulturellen Ausprägungen über Jahrtausende geprägt und geleitet hat. Lästerung des Heiligen war ein Religionsdelikt und ist es in vielen Gesellschaften und Rechtsgemeinschaften noch heute. Man darf nun das moderne, westliche Experiment, Kirche und Staat voneinander zu trennen, nicht mit einer Zuweisung des Heiligen an die Kirche und des Profanen an den Staat verwechseln. Diese Verwechslung ist die Ursache vieler Missverständnisse. Denn der säkulare Staat, der sich in der Moderne an die für das christliche Abendland charakteristische Dualität von geistlichem und weltlichem Regiment setzte, ist ja keineswegs ein profanes Ding. Vielmehr erhält der moderne Staat seine Autorität, ja seine Plausibilität und somit seine Akzeptanz, aus einer gewissen Heiligkeit, die er beansprucht, sei es in Form des Gottesgnadentums des absoluten Monarchen, sei es in der Heiligkeit des etre supreme, dessen Beleidigung auch die Französische Revolution unter Strafe stellte, sei es in Schlüsselbegriffen wie Nation, Volk oder Arbeiterschaft, sei es im “Gott mit uns” auf dem Koppelschloss oder sei es einfach in der Heiligkeit der Fahne, deren Verbrennung vielerorten eine strafbare Handlung ist. Majestätsbeleidigung und Gotteslästerung sind also siamesische Zwillinge, was einiges Licht auf die Säkularisierung selbst wirft, die offenbar nur mithilfe der Übertragung religiöser Gewalten auf säkulare Träger funktioniert.

Was die siamesischen Zwillinge von Majestät und Gottheit anbetrifft, so machten die politische Philosophie der Aufklärung und die auf dieser aufbauenden Verfassungen den Versuch, sie irgendwie voneinander zu trennen. So besteht weiterhin der alte Tatbestand des Religionsdelikts (StGB Par. 166), aber er steht neben dem neuen Tatbestand  der politischen Tabuverletzung, die nun ein viel ernsthafteres Delikt darstellt. Die Beleidigung der Staatsgewalt und ihrer Träger ist z.B. in der Bundesrepublik Deutschland viel leichter vor Gericht zu verfolgen als die Beleidigung christlicher Symbole und ihrer Repräsentanten. Der Staat hat also die Kirche nicht einfach eingeschränkt sondern sie gewissermassen ersetzt und dabei auch den Anspruch auf die Unverletzlichkeit seiner Insignien übernommen. Staatslästerung ist die neue Gotteslästerung. Die Virulenz dieser Übertragung der Unverletzlichkeit des Tabus auf den Staat wird vor allem dort evident, wo es zu einer extremen Religionisierung des Staates kommt. Ein Beispiel hierfür war der nationalsozialistische Führerkult, in dem sich eine Tabusierung der biologischen Grundlage des eignen Volkes mit der Dämonisierung anderer solcher biologischer Einheiten verband. Aus Furcht vor einer Wiederholung solcher Entwicklungen tendieren die heutigen Aufklärer und Gebildeten auf der Linken des politischen Spektrums nun zwar zu einer radikalen Entzauberung der Politik, d.h., zur Legitimierung der Profanität als Ausdruck der konsequenten Säkularität. Allerdings bleibt hiervon die Profanierung der Bildung und der Aufklärung ausgenommen. Wer über Kant, Herder oder Humboldt lacht, ist ein Lästerer der Freunde Gottes.

 

III.

Witz, v.a. der politische Witz, und Satire, einschliesslich die satirische Behandlung der Sexualmoral, sind Hinweise auf das, was der bürgerlichen Gesellschaft als “heilig” gilt, also auf die vielberufenen “gemeinsamen Werte.” Von Anfang an verbindet sich die moderne Medienkultur mit dem, was sich früher vor allem in der Predigt von Wander- und Busspredigern fand, nämlich mit der Möglichkeit, Wort und Bild zur Tabuverletzung zu verwenden und dadurch bestimmte Gefühle bei den Massen hervorzurufen. Die Tabuverletzung durch Wort und Bild wird zum Instrument der Verbreitung von politischer Ideologien und von den mit diesen verbundenen Werturteilen, die sich an die Stelle bislang geltender Werturteile setzen. Hierzu bedürfen sie einer bestimmten Kraft und Plausibilität. Diese beziehen sie aus dem gemeinsamen Feind. Die zu erzielende Tabuisierung eines neuen Guten wird erreicht durch die Tabuisierung eines Anderen, eines latenten oder bereits als solches verstandenen Bösen, also mittels einer negativen Tabuisierung. So erklärt sich die Bedeutung der Propaganda in der Geschichte der modernen Politik.

Ein wichtiges Beispiel für die Gewalt der säkularisierten Blasphemie ist der Antisemitismus. Diese Erscheinung, in der sich politische und religiöse Motive zum religionsartigen Säkularisat eines geschürten Hasses auf die Juden vermischen, ist gleichzeitig eine Anzeige dessen, was mit seiner Hilfe jeweils wirklich erreicht werden soll. Im späten 19ten Jahrhundert ging es dabei um den Abbau der Plausibilität des liberalen Weltbildes der Aufklärung und den Aufbau der Plausibilität der politisch-religiösen Priorität des Volkswohls. Der Appell an die Natürlichkeit dieses Gedankens diente der Erzeugung des Eindrucks, dass diejenigen, die sich diesen Gedanken zum Programm gemacht hatten auch die zuverlässigsten Vertreter des allgemeinen Volksinteresses sein dürften. Die satirisch-propagandistische oder ernsthaft geglaubte Desavouierung der Ideale von 1789 als Instrumente im Kampf eines anderen, “fremden” Volkes um die Herrschaft über das eigene Volk stiess nun nicht so sehr auf einen politischen Widerstand seitens der Eliten (etwa im Berliner Antisemitismusstreit von 1879/80) als auf einen ästhetischen Widerstand. Antisemitismus war eine Verletzung nicht der Menschrechte der so karikierten Minderheit sondern des guten Geschmacks.
Blasphemie und deren Korrelat, die Heiligung bestimmter Namen und Werte, säkularisieren sich also nicht nur in Staat und Politik, sondern auch in Ästhetik und Bildung.

 

IV.

Die religiöse Definition des Religionsdelikts der Gotteslästerung, die sich neben der Tabusierung des säkularen Staates (inclusive seiner Quellen, Träger und Ideale) bis heute gehalten hat, kann uns vielleicht dabei behilflich sein, einige psycho-soziale Konstanten der Blasphemie zu ermitteln. Zunächst sei eine Definition der Blasphemie angeführt, die ich auf einer Webseite der Altkatholiken (Gegner der “V2-Sekte”) zitiert fand, die die bereits erwähnte Debatte zum Paragraphen 166 des StGB kommentierte. Die zitierte Quelle ist ein Auszug aus einem Text des katholischen Moraltheologen Bernhard Häring (1911-1998) aus dem Jahre 1954, also aus der Zeit vor der Novellierung des Par. 166.
Die Gotteslästerung ist die Schmährede gegen Gott selber unmittelbar oder gegen Sein Werk beziehungsweise gegen Seine Freunde in Hinsicht auf Gott selber. Die schlimmste Form ist die absichtliche und voll bewußte Beschimpfung oder Verhöhnung Gottes, um Ihn in Seiner Ehre und Heiligkeit zu kränken (die diabolische Blasphemie). Die Verwendung von Ausdrücken, Aktionen und Aussagen, die aus ihrer Bedeutung heraus eine Gotteslästerung darstellen, ist eine Sünde gleichen Wesens mit der direkt beabsichtigten Gotteslästerung (auch wenn diese Absicht nicht besteht), -wenn und soweit sich der Betreffende dieser Gott schmähenden Bedeutung seines Redens oder Tuns bewußt ist und frei handelt. Die Gotteslästerung kann auch als bloße Gedankensünde vorkommen. Bei Beichtenden, die sich der Gotteslästerung in Gedanken anklagen, liegt es immer nahe, an bloße Versuchungen oder an Zwangsgedanken zu denken, wenn sie sonst ein gläubiges und frommes Leben führen. Den Zwangskranken rate man, nie mit Heftigkeit auf solche Gedanken zu reagieren, sondern ihnen gewöhnlich überhaupt keine Beachtung zu schenken, von Zeit zu Zeit darauf mit einem in aller Ruhe verrichteten Lobgebet zu antworten. Gotteslästerung kann auch durch Zeichen und Gebärden begangen werden, zum Beispiel, wenn einer eine Faust zum Himmel oder gegen das Kreuz macht oder ein heiliges Bild verunehrt. Gotteslästerung ist es ferner, wenn man Menschen mit Hinweis auf Geheimnisse der göttlichen Liebe (Kreuz, Sakrament, Blut Christi) Böses wünscht (die verfluchende Gotteslästerung). Vielfach verbindet sich mit der Gotteslästerung auch Häresie, wenn die Lästerung Gott etwas Wahres abspricht oder etwas dem Glauben Widersprechendes über Ihn behauptet. Die Gotteslästerung ist der ganzen Art nach eine furchtbare Todsünde. Und zwar ist sie schlechthin Todsünde, mag das Motiv Ungeduld, Jähzorn, Haß oder Verachtung Gottes sein. Gewohnheitsmäßige Gotteslästerung ist »die Sprache der Hölle« und ein Zeichen der Verwerfung [FN: S. th.II q 13 a 4. [hl. Thomas von Aquin, Summa theologiae]). [...] Gotteslästerungen sind zum Beispiel: »Kann es da noch einen Herrgott geben!« »Da kann man doch nicht mehr an Gott glauben.« »Hör mir auf mit der Gerechtigkeit (Güte) Gottes!« »Wie kann Gott so grausam sein!« »Der Teufel versteht es besser als der Herrgott!« »Gott hat Sich mit Seiner Schöpfung schwer verrechnet!« »Der Herrgott hat uns betrogen.« »Religion ist Privatsache. Mit dem Herrgott kann es Jeder halten, wie er will!« [...] Der zornige Mißbrauch heiliger Worte (um durch diese »Kraftausdrücke« dem Zorn oder der Ungeduld Luft zu machen) ist an sich noch nicht die Sünde der Gotteslästerung, kann aber leicht in gefährlicher Nähe derselben kommen. Wenn sich damit eine freiwillige Regung des Zornes oder der Ungeduld unmittelbar gegen Gott verbindet, wird es durch die Absicht zur Lästerung. Wenn mehrere heilige Wörter, gewissermaßen eine »Litanei« heiliger Namen und Offenbarungen der Liebe Gottes, zusammen herausgebrüllt werden, so ist das nach allgemeinem Empfinden eine Schmähung Gottes, eine Gotteslästerung, so daß auf eine gotteslästerliche Gesinnung geschlossen werden kann. [...] Die Beschimpfung der Heiligen, insbesondere der Mutter Gottes, ist sicher Sünde der Gotteslästerung, weil sie als Freunde Gottes unmittelbar in Beziehung zu Gott stehen. Wie in ihnen die Ehre Gottes aufleuchtet, so trifft ihre Schmähung indirekt Gott selbst. Die Verwünschung und Verfluchung von Geschöpfen ist (wenn sie ernst gemeint ist) zwar eine schwere Sünde gegen die Nächstenliebe und ein Gegensatz zum Gebet (einem Akt der Gottesverehrung), aber keine Gotteslästerung, wenn nicht der direkte Bezug auf Gott oder eine göttliche Eigenschaft dazukommt. Die Gotteslästerung im Rausch ist schwer sündhaft, wenn der Betreffendevorher weiß, daß er im Rausch bisweilen solche Reden ausstößt. Wenn er trotzdem den Rausch nicht vermeiden will, so zeigt er, daß er die Lästerung nicht ernst verabscheut [FN: St. Aphonsus, Homo Apostolicus tr. 8 n 8.]. Im AT stand auf Gotteslästerung die Todesstrafe: »”Wer den Namen Gottes lästert, soll mit dem Tode bestraft werden. Die ganze Gemeinde soll ihn unfehlbar steinigen« [Lev 24,16]. Jesus hat die Behauptung, daß er mit Hilfe Beelzebubs Teufel austreibe, eine Lästerung des Heiligen Geistes genannt, die weder in dieser noch in der anderen Welt vergeben wird [Mt l3,31f.]. Die alten heidnischen Völker ächteten und mieden den Gotteslästerer. Justinian setzte in seiner Gesetzgebung auf Gotteslästerung noch die Todesstrafe. Das deutsche Strafrecht droht dem Gotteslästerer mit Gefängnis bis zu drei Jahren, wenn er »Ärgernis« gibt und »das religiöse Gefühl« von Angehörigen anerkannter Glaubensgemeinschaften verletzt. Weite Kreise tun heute alles, um dieses Gesetz wirkungslos zu machen. Wenn auch die Fassung unglücklich ist (wie stellt man fest, daß das Gefühl verletzt und Ärgernis gegeben ist?), so muß doch jedenfalls das Strafrecht eines Volkes, das noch auf Religion und religiöse Ehrfurcht Anspruch erhebt, die Beschimpfung Gottes für strafwürdiger erachten als die Beschimpfung von Privat- oder Amtspersonen.
(Häring, Das Gesetz Christi, Freiburg 1954, 704-707)[2]

Häring vertritt eine reformkatholische Moraltheologie, die sich jedoch in dem hier zitierten ersten bedeutenden Text des Theologen noch nicht so deutlich abzeichnet, dass hierduch die traditionelle Kasuistik der Gotteslästerung verdrängt würde, auf die es uns gerade ankommt. Aus diesem inhaltlich sehr reichen aber auch umfangreichen Zitat seien nur wenige Merkmale hervorgehoben. Die Gotteslästerung ist offenbar einer sehr ernste Sache, immerhin eine “Todsünde”. Allerdings wiegt diese Sünde nicht immer gleich schwer, und es lassen sich blasphemieähnliche Fälle von solchen echter Blasphemie unterschieden. Die Abstufung ist psychologisch gut nachvollziehbar. Die Sünde der Gottelästerung bezieht sich nicht nur auf Handlungen, vor allem auf Sprachhandlungen, sondern auch auf Gedanken, und nur absichtliche bzw. freie Handlungen und Gedanken sind schuldfähig  während Zwangsgedanken zwar der Beichtpflicht unterstehen aber eher zu den Gegenständen der Seelsorge als zum Kirchenrecht gehören. Natürlich kann man sich durch einen solchen Beichtspiegel gut in eine Situation versetzen, in der Kirchenzucht noch mit politischer Gewalt einherging. Ein solches Gedankenexperiment ist dazu geeignet, uns daran zu erinnern, um was für ein besonderes Gut es sich bei der gesetzlichen Garantie der Freiheit unserer Gedanken handelt. Dieses Recht ist uns heute sicher allzu selbstverständlich, ja es wird als eigenes Rechtsgut über der Frage der Grenzen der Pressefreiheit, d.h., der Freiheit der Meinungsäusserung, gewöhnlich ganz vergessen. Was für einen tiefen politischen und psychologischen Gewinn es bedeutete, das Recht auf seine eigenen Gedanken zu haben, steht wieder deutlich vor uns, wenn wir bedenken, dass selbst der gotteslästerliche Gedanke mancherorts schon strafbar sein kann.

Der angeführte Text Härings eignet sich aber auch dazu daran zu erinnern, dass der Konflikt zwischen Religion und freiheitlichem Rechtsstaat so lange nicht vollkommen beigelegt ist, wie es eine solche kirchliche Blasphemielehre gibt. Oder ist es etwa nicht beunruhigend, wenn ein progressiver Katholik noch im Jahre 1954 das zentrale Toleranzdogma des modernen Staates, d.h., die Aussage, die “Religion ist Privatsache. Mit dem Herrgott kann es Jeder halten, wie er will”, als gotteslästerlich bezeichnet. Hier rührt Häring an den raison d’etre des modernen Staates. Der säkulare Staat beruht seiner Möglichkeit nach auf der Unverletzbarkeit der Menschenrechte, wozu u.a. die Religionsfreiheit gehört. Der Staat im modernen Sinne beruht weitgehend auf der Annahme, um frei mit Spinoza zu sprechen, dass die Meinungsfreiheit sich nicht nur mit dem Frieden im Staate verträgt, sondern nur mit der Folge einer Schädigung dieses Friedens aufheben lässt. Der Rechtsstaat würdigt seine Bürger eines zwangsfreien Raumes der Gedanken- und Meinungsfreiheit. Nun kann sich natürlich der Mensch in einem solchen Staate freiwillig, wenn auch nicht im Sinne einer unwiderruflichen metaphysischen Transformation, einem Zwangsrecht unterstellen, das es ihm etwa verbietet, die Wahrheit des Satzes zu glauben, dass Religion Privatsache sei. Er kann sogar unter Massgabe der Meinungsfreiheit im Staat für diese Meinung in der

Öffentlichkeit werben, d.h., er kann sein Bekenntnis zur Intoleranz öffentlich zu verbreiten versuchen, aber der Staat hat das Recht, das letztlich subjektive Mass der Verträglichkeit solcher Verbreitung intoleranter Meinungen mit dem öffentlichen Frieden zu bestimmen. Das Resultat der Differenz zwischen einem solchen Kirchenglauben und dessen Auffassung von Gotteslästerung und staatlicher Verantwortung für den öffentlichen Frieden ist der schwelende bzw. offene Kulturkampf, der sich, wenn man den Prinzipien des Häringschen Beichtspiegels folgt, für jeden praktizierenden Katholiken an jedem Tag seines Lebens abspielt. So ist das Ärgernis verständlich, das die staatliche Prärogative in der Bestimmung dessen, was strafbare Gotteslästerung darstellt, bis heute für die katholische Kirche und für die ihr verbundenen christlichen Parteien in Deutschland darstellt.

 

V.

Wie bekannt, hat der Islam ein ähnlich gespanntes Verhältnis zu der Möglichkeit eines säkularen Staates wie die katholische Theologie, was sich auch dort am Religionsdelikt der Gotteslästerung besonders deutlich zeigt. So findet sich, sucht man auf dem Internet nach Seiten zum Thema Blasphemie, eine ganze Reihe von Hinweisen auf Verurteilungen von Christen in Pakistan wegen angeblicher Verunglimpfungen des Profeten Muhammad, sowie auf die Fatwa gegen Salman Rushdies Roman, Satanic Verses. Weniger bekannt ist es, wie die Blasphemie unter den Juden verstanden und gehandhabt wird. Das gilt auch, wenn man wie Häring auf Levitikus 24:16 verweist. “Im AT stand auf Gotteslästerung die Todesstrafe:

»Wer den Namen Gottes lästert, soll mit dem Tode bestraft werden. Die ganze Gemeinde soll ihn unfehlbar steinigen« [Lev 24,16].” Soweit ich weiss, ist bereits seit der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 nach Christus zumindest von Juden niemand mehr gesteinigt worden, jedenfalls nicht unter Berufung auf das genannte Gesetz, dessen Bedingungen erstens von den Rabbinen bis zur Undurchführbarkeit gesteigert wurden und zu dessen Durchführung, sollte sie dennoch einmal angebracht gewesen sein, den rabbinischen Gerichten ohne staatliche Sanktion die Autorität fehlte. Hierüber gibt es bei Moses Mendelssohn einschlägige Abschnitte (in Jerusalem, oder über religiöse Macht und Judentum, 1783), die ich hier nicht anführen will.

Das Judentum bietet insofern eine interessante Grösse für einen religionsgeschichtlichen Blick auf die Blasphemie, weil es in den Augen des Christentums bis zum zweiten Vatikanischen Konzil (an dem der genannte B. Häring übrigens in mancher Hinsicht einen bedeutenden Anteil hatte) die Gotteslästerung par excellence darstellte. Die Juden galten als Gottesmörder, eine Gemeinschaft, deren Religion in ihrer blossen Fortdauer eine Beleidigung der Ehre Gottes darstellte und deren Fortdauer man nur deshalb christlicherseits ertragen musste, weil sich an ihr die Strafgerechtigkeit Gottes sinnfällig vollzog. Die Unterdrückung der Juden galt als Beweis dafür, wie es Gotteslästerern ergeht, alle Verspottung, Ächtung, Ausgrenzung, Verfolgung und Bestrafung ein offenbares Gottesgericht und somit eine Warnung vor den Folgen der Blasphemie, die in der jüdischen Leugnung der Gottheit Christi bestand. Über die Dämonisierung des Anderen zur Bestimmung der eignen Identität ist von Religionssoziologen viel geschrieben worden, auch vieles, was für die Funktion des Blasphemievorwurfs relevant sein dürfte, worauf ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen kann.

Was ich dem Beichtspiegel Härings gegenüberstellen möchte, ist die entsprechende Theorie und Praxis auf der jüdischen Seite. Ich möchte also kurz den Begriff der Gotteslästerung darstellen, wie er im jüdischen Rechtsdenken vorliegt. Hierbei spielen, soweit ich sehe, zwei Ausdrücke eine zentrale Rolle, wobei der Ausdruck hilul Haschem, der dem christlichen Begriff der Blasphemie weitgehend entspricht, gleichzeitig ein Problem beleuchtet, das bisher noch nicht aufgetaucht war. Hilul hashem bedeutet wörtlich die Profanierung des heiligen Namens. Darunter versteht man die Folge sündhafter Handlungen, die von Einzelnen oder der gesamten Gemeinde Israels begangen wurden und die bei anderen Völkern, die hiervon Zeuge geworden sind, dazu dienen könnten, dass sie mit vollem Recht den Gott Israels verachten oder leugnen. Voraussetzung dieses Begriffes von Profanierung des Namens ist, dass die Heiligung des Namens Gottes unter den Völkern vom Handeln Israels abhängt. Wenn Israel den Namen Gottes verunheiligt, so wird der Gott Israels in den Augen der Völker verunheiligt. In einem aktuellen Interview zum Thema des Verhaltens der ultraorthodoxen Gemeinschaft (d.h., der Charedim) in Israel bezieht sich der israelische Religionsphilosoph Avi Saguy auf ebendieses Verantwortlichkeit. Aus diesem und den nachfolgenden Beispielen wird deutlich, welche Bedeutung das jüdische Blasphemiekonzept bis heute im innerjüdischen Diskurs besitzt.
The idea of hilul hashem […] is somewhat paradoxical, because the one who determines what is hilul hashem is someone else. Hilul hashem is dependent on someone else—the one who sees it; and this doesn’t have to be a Jew like me, but it could be a non-Jew, a secular Jew, or anyone who watches the practices of a community that claims to follow God’s ways. The paradox is that what happens internally is conditioned by what the outside observer thinks. This forces us to care about what those outside of our community think of us.[3]

Wie gesagt, macht der Autor diese Bemerkung im Zusammenhang einer Kritik am Verhalten der ultraorthodoxen Gemeinschaft im zionistischen Staat. Und zwar behauptet Saguy, dass es gerade die ultraorthodoxen Juden seien, die heute dem Prinzip des hilul haschem den Rücken kehrten, indem sie so lebten, als gäbe es niemanden, der ihren Wandel zum Anlass der Leugnung Gottes nehmen könnte. Demgegenüber beruft sich Saguy auf die Möglichkeit, dass gerade der säkulare Staat ganz vital an der Beachtung dieses Prinzips interessiert sei und man seinen Interessen zuwiderhandelt, wenn man es  seitens der ultraorthodoxie vernachlässigt, bzw. aufkündigt. Der rhetorische Trick, der hier vorliegt ist, beruht auf der ganz zu Anfang beobachteten Übertragung eines religiösen Heiligungsbegriffs auf den säkularen Bereich. Diese Übertragung wird aber im Falle des jüdischen Staates nicht nur von der säkularen Seite betrieben, sondern auch von der religiösen Seite, wie das nächste Beispiel zeigt. D.h. es gibt im Problemzusammenhang Religion und Zionismus nicht nur den Versuch, jüdische Tradition auf kulturzionistisch zu säkularisieren, sondern auch den umgekehrten Versuch, den politischen Zionismus religiös zu deuten.

Das hierfür bedeutendste Beispiel ist Harav Avraham Hacohen Kook und dessen Sohn. Rav Kook war aschkenasischer Oberrabbiner des sogenannten “alten Yischuv”, also der vorzionistischen jüdischen Einwohner des Landes Israel, und einer der ersten bedeutenden orthodoxen Befürworters der modernen Besiedlung des Landes Israel, die er als Beginn der messianischen Erlösung deutete. Das folgende Zitat stammt aus den Gebsprächen seines Sohnes, Rav Zvi Yehuda Kook, der im Sinne seines Vaters wirkte. Auch er glaubte, dass die säkulare Besiedlung des Landes Israel als solche bereits eine Heiligung des göttlichen Namens beinhaltet und somit den Prozess der Erlösung in Gang bringt, d.h., das messianische Zeitalter näher bringt. Im Unterschied zu den heutigen radikal religiösen Zionisten hielt Rav Kook aber das Ereignis der messianischen Zeit selbst für eine Sache der göttlichen Intervention. Genauer gesagt scheiden sich die Geister heute daran, ob die Vermischung von Heiligung und Entheiligung des Namens, die im gegenwärtigen Prozess unvermeidlich ist (siehe das nachfolgende Zitat), von Gott selbst oder aber durch menschlichen Aktivismus überwunden werden muss.

[In saying this] it is not our intent to flatter heretics and Torah scoffers. There are in the State of Israel many grievous things in which there is much hilul haShem (the Desecration of the Name)...Nonetheless, with all that is shocking from the aspect of hilul haShem, there is an enormous value of kiddush haShem (the Consecration of the Name) which cannot, by any account, be set aside in relation to the State and Israel’s Day of Independence.

In Ezekiel, Chapter 36, the program for Redemption is set out: “I will sanctify My great name”. This will come about because “I take you from among the nations, and gather you out of all the countries, and will bring you into your own land.” Only afterwards will come “And I will sprinkle clean water upon you, and ye shall be clean; from all your uncleannesses...And I will...cause you to walk in my statutes” (Ezek. 36:23-26). The Repentance (Teshuvah) of the People will come only after the Ingathering of the Exiles. (For this interpretation of Ezekiel 36 see R. Shlomo Elyashiv, Hakdamot U’Shearim. R. Shlomo Elyashiv was the greatest of the Kabbalic scholars of his generation. His grandson is HaRav HaGaon Shalom Yosef Elyashiv of Jerusalem.)

At first glance it would appear that there is a balance between the kiddush haShem involved in the building of the kingdom of Israel, on the one hand, and the hilul haShem involved on the other. But we are instructed by the Sages in the Talmud Yerushalmi (Kedushin) that “kiddush haShem is greater than hilul haShem”. Certainly the significance of this saying of the Sages is not an injunction that kiddush haShem is of more importance than hilul haShem. Rather the explanation is that when both are present together, when in the same matter there is to be found an aspect of kiddush haShem and an aspect of hilul haShem, then one does not say this case is doubtful, we are at an impasse. For the aspect of kiddush haShem is prominent, decisive and obligatory. How much more is this so in the great, divine kiddush haShem involved in the Rebirth of Klal Israel.

And, as the fulfillment of the mitzvah of the Settlement of Eretz Israel continues to grow within our midst, as the tens of thousands of Israel are gathered within the Land, out of the completeness and greatness of faith in the realization of the “works of the L-rd”, we may attain the right to see desecrations and profanations (hilulei haShem) gradually be abolished and disappear. “And the rugged shall be made level,/And the rough place a plain;/And the glory of the L-rd shall be revealed;/And all flesh shall see it together;/For the mouth of the L-rd hath spoken it.” (Isa. 40:4-5).[4]

Sowohl die orthodoxen Mitglieder der israelischen Friedensbewegung wie Saguy als auch Rav Zvi Yehuda berufen sich also auf den Begriff des hilul haschem im Zusammenhang des Versuchs, zwischen säkularen und religiösen Juden im Staat Israel Solidarität zu stiften. Im Hintergrund steht etwas wie eine spezifische Vorstellung von verbindlicher Öffentlichkeit, etwas wie nationale Solidarität die gerade nicht, wie das sonst üblich zu sein scheint, davon absieht, was andere von uns denken, sondern die eigene Verantwortung für das Gesamt der Gemeinschaft gerade daraus ableitet, wie man gemeinsam vor der Welt dasteht, wenn man so oder so handelt. Aus dieser gemeinschaftlichen Verantwortung kann sich keine Gruppe entlassen, schon gar nicht eine, die sich auf die Torah beruft. Aus gemeinschaftlichkeit der Verantwortung resultiert die Bemühung, das völlige Auseinanderbrechen der Gesellschaft in einen säkularen und einen religiösen Sektor zu verhindern, bzw. das de facto Auseinandergebrochensein nicht als ein gesetzmäßiges Faktum hinzunehmen.

Die Möglichkeit einer verpflichtenden Solidarität zwischen Orthodoxie und Nichtorthodoxie stellt auch im anderen Bereich jüdischen Lebens, d.h. in der Diasporah, das zentrale Problem dar, das mit dem Blasphemiebegriff bearbeitet wird. Auch in der folgenden Quelle wird hilul haschem so in den Zusammenhang der Frage nach der Solidarität gebracht, die nach rabbinischer Tradition “ganz Israel” miteinander verbindet. Wie weit ist man aber, so wird gefragt, dazu verpflichtet, sich mit denen zu solidarisieren, die den Namen Gottes profanieren? Der Autor der folgenden Antwort bringt die Frage in den Zusammenhang der halachischen, d.h. religionsgesetzlichen, Verpflichtung zur Zurechtweisung des Sünders. Es geht also hier darum, wie man sich als torahtreuer Jude gegenüber Vertretern des Reformjudentums bzw. gegenüber solchen Juden, die sich nicht mehr nach der rabbinischen Halachah richten, zu verhalten hat. Der rabbinische Ausdruck für die Regelungen, die dabei zu beachten sind, wenn es darum geht, jemanden zurechtzuweisen, lautet hilchot keruv rechokim, d.h. Gebote hinsichtlich der Annäherung der Fernen. Die Notwendigkeit zur Zurechtweisung ergibt sich hier nicht aus politischen oder messianischen Motiven, sondern aus dem religiösen Grund, dass die Gesetzesübertreter Anlass zur Verlästerung des Namens Gottes (hilul hashem) geben. Man ist aber halachisch dazu verpflichtet, zu verhindern, dass es zu einer solchen Verlästerung überhaupt kommt, auch wenn man nicht selbst den Anlass dazu gibt. Der Autor, ein kalifornischer Rabbiner, der sich hierfür auf die einschlägigen Quellen der jüdischen Rechtsliteratur beruft, meint, man komme dem Gebot der Verhinderung der Gotteslästerung heute dadurch nach, dass man die Gebote zur Wiederannäherung der Fernen erfüllt. Zunächst wird geklärt, wer mit den Fernen gemeint ist, und zu welchen Wiederannährungsversuchen man hinsichtlich welcher Grade der Entferntheit verpflichtet ist.[5]

From: A. Seinfeld <aseinfeld@aish.com>
Date: Fri, 25 May 2001 01:58:45 –0700
Subject: Hilchos Kiruv Rechokim

Another member of the list and I have been communicating off-line about the halachos of kiruv [d.h., hilchot keruv rechokim, die Regelungen bezüglich der Annäherung der Fernen]. This seems an appropriate topic for the season [gemeint ist Schawuot, das jüdische Pfingstfest, an dem man sich der Gabe der Torah erinnert], as one pre-requisite for receiving the Torah seems to be that we be “like one man with one heart” – today, the Jewish people are fragmented into many hearts.  The amount of machlokus [Religionsstreit] is extraordinary. We have much work to do, on all fronts. One of those fronts is Jews who are far from Daas Torah [Torahwissen, Bildung hinsichtlich der religiösen Quellen]. For the sake of opening up an important discussion, here are some basics:

The Chafetz Chaim (in the sefer [Buch] Chizuk haDat) mentions three categories of Torah mitzvos [Gebote der Torah] that compel us to try to bring other Jews back to Torah:
1.           ahavat Hashem – love of the Almighty – which requires us to make a kiddush Hashem [Heiligung des Namens] and to prevent a hilul Hashem.
2.           tochacha (rebuke).
3.           misc. mitzvos bein adam l’chaveiro (obligations to other indivduals).
These latter two are mentioned in the Torah (Vayikra [Levitikus] 19:13-18, 25:14, 25:17, 25:36; Dvarim [Deuteronomium]  22:1-4) in conjunction with specific types of individuals:
·              to your “brother” – don’t hate him, strengthen him, return his lost object. (His soul is considered “lost” so we must return it to him.)
·              to your “neighbor” – don’t stand by his blood, love him.
·              to your “compatriot” – judge justly, don’t speak lashon hara [üble Nachrede] about, rebuke, don’t turn away from him.
·              to your “enemy” – return his lost object (Shemot 23:4-5).

Now, in which of the above categories are Jews who eat shrimp or drive on Shabbat (for example)?

Shogeg (one who sins accidentally or unknowingly) and a tinuk shenishba lvein hagoim (one who had been kidnapped and raised by non-Jews, i.e., doesn’t know any better) – is still your brother, compatriot, neighbor – therefore we are obligated to fulfill all of the above mitzvos [Gebote] for him.

Avar aveira b’meizid – (sins intentionally and hasn’t done teshuva [Umkehr]) because his yetzer hara [sein böser Trieb] got a hold of him – he is no longer “your brother” and mutar [erlaubt] (even a mitzva [geboten]) to hate him (i.e., his ways) but ussur [verboten] to embarrass him or speak lashon hara [üble Nachrede] about him. Must judge him favorably and we are required to rebuke him, to love him, and to return his lost object to him. (Gamara Avoda Zara 26b and Tos[aphisten, d.h., Kommentar zur Gemara, d.h., zum babylonischen Talmud an dieser Stelle]).

Matmid b’aveira – (sins intentionally and habitually because  of yetzer hara) no longer “your neighbor” for the mitzva of “don’t stand by his blood.”

Mumar shlo l’teavon – (sins intentionally and habitually because he just doesn’t care about that mitzva) – major maklokus [Meinungsverschiedenheit unter den Rechtsgelehrten]  on what his status is. Don’t need to judge him favorably and are exempt from rebuking him if he won’t accept it.

Mumar l’hachis – (sins intentionally and habitually out of maliciousness) major maklokus again – most hold we should hate him, speak lashon hara about him, judge him unfavorably. Some say still required to return his lost object (in this case, his soul).

Apikorus – (denies Hashem and/or the Torah) – no longer “your neighbor.”

Kofer machmat taut – (denies because of an error in his learning) – Rambam [Maimonides] holds he’s like an apikorus, Raavad holds he’s like a shogeg.

Rambam [Maimonides] holds in several places that we must try to bring Jews back to mitzvas – that we err on the side of caution in terms of what a given Jew’s status is as per above. See Deos [Maimonides, Mishneh Torah, Hilkhot Deot] 6:3, Hagahos Maimonius [halachischer Kommentar zu Maimonides] 1.

The Chafetz Chaim holds that we are required to try to bring Jews back to halacha; see Beer Mayim Chaim 4:14 and 10:30.

The Chazon Ish z”l [Chason Isch ist der Name eines Gelehrten, dessen Name hier mit dem Zusatz “seligen Andenkens” erwähnt wird] writes in YD [Yoreh deah] 2:16 that the mitzva of preventing hilul Hashem in this day and age should be fulfilled via kiruv rechokim.

Further, in 3:28, the Chazon Ish writes that a person doesn’t have the status of “mumar” until someone has tried to rebuke him. He goes on to say that in our times, people don’t know how to give rebuke. This statement is sometimes misconstrued as meaning that we therefore have no obligation to do kiruv rechokim. In fact, pshat [the literal sense] is that since we don’t know how to give rebuke, everyone who sins remains in the status of shogeg [Sünder aus Unwissenheit] and we are obligated to rebuke them.

How to rebuke? There are many halachas, but it boils down to speaking to a person in the way that they will hear it. If that means you need to hold a social event just to get them to come in the door, then so be it (as long as it be kosher, obviously).

Hope this has been a helpful summary. It is far, far from complete. Each one of us has the obligation to try to help our fellow Jews who don’t know what Shabbat is, don’t know what Sukkot [Laubhüttenfest] is, never opened a Chumash [Pentateuch] or a Gamara [bab. Talmud].
May we merit to learn Torah together!

Rabbi Alexander Seinfeld

Aish Hatorah 2275 Ramona St.; Palo Alto, CA 94301 aseinfeld@aish.com, http://www.aish.com

Auch wenn man diesen Text nicht in allen Einzelheiten exegesiert, so wird doch folgendes deutlich.

Wie im Fall der katholischen Blasphemieordnung handelt es sich auch bei der jüdischen Gesetzgebung hinsichtlich der Ermahnung (tochacha, rebuke) vorwiegend um eine seelsorgerliche Angelegenheit. Der Sünder soll auf den rechten Weg zurückgebracht werden. Anders als im Falle des Beichtspiegels stehen hier jedoch nicht der Sünder und dessen Sünde (auch hier aufgefächert nach Graden der Schwere des Vergehens, auch hier die Aufschlüsselung nach der Habituierung, also gewissermassen aristotelisch-scholastisch) im Mittelpunkt, sondern, wie überhaupt bei der Entheiligung des Namens (hilul haschem), das Verhältnis zwischen Sünde und Zeugenschaft.

Im Fall des hilul haschem kommt es auf die Folge der Sünde auf unbeteiligte Dritte an und die Sünde besteht in der Übertretung des Verbots, anderen zum Anlass der Entweihung des Namens zu werden. Im Fall der tochacha bzw. der Rückbringung des Fernen geht es hingegen um die Heiligung des Namens (kiddusch hashem), die ein positives Gebot darstellt, das aber nur dann wirklich völlig erfüllt ist, wenn niemand es mehr übertritt, von dem erwartet werden kann, dass er es nicht übertreten werde, und das sind, der Auslegung Seinfelds zufolge, alle Juden. Sämtliche Sabbatübertreter und Garnelenesser sind als solche Juden anzusehen, die die Gebote nur irrtümlich übertreten und somit der Ermahnung zugänglich sind. Durch diesen Schachzug wird die Menschenwürde, d.h., die potentielle Unschuld des Sünders, seine prinzipielle Reformierbarkeit, gewährleistet, ein Gedanke, den Hermann Cohen in seiner Ethik des reinen Willens für das Strafrecht überhaupt durchführt.

Zweitens wird hier die Solidarität der Gesetzestreuen mit den Nichtgesetzestreuen eingeschärft, was im Sinne des Ausgangspunktes der Homilie der Sinn des Schawuotfestes sein soll.

Drittens wird der Gesetzestreue dazu angehalten, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die Gesetzesleugner als reformierbar anzusehen. Man soll, mit Maimonides, lieber das Beste von seinen Mitmenschen annehmen als das Schlimmste.

Das Wichtigste hierbei scheint mir dies zu sein. Während im christlichen Gotteslästerungskatalog auch die gedankliche Sünde genannt wird, wird im jüdischen Rechtsverständnis die Gedankensünde nicht nur nicht erwähnt, sondern man masst sich noch nicht einmal an, über die Absichten dessen Bescheid zu wissen, der das Gesetz in seinen Taten übertritt. Vielmehr muss man alle Spekulationen hierüber ausschliessen und positiv die Möglichkeit irrtümlicher Übertretungen als Prinzip einschalten. Der Sinn im Katholischen scheint es zu sein, den Menschen durch Abschreckung von der Sünde abzuhalten, während der Sinn im Jüdischen zu sein scheint, so viel wie möglich die Empirie der Gesetzesübertretung und Entheiligung des Namens in eine Wirklichkeit zu verwandeln, in der alle Juden in gegenseitiger Solidarität sich zur Heiligung des Namens anhalten und diese auch möglichst vollbringen.

 

VI.

Das Verhältnis zwischen Heiligung und Entheiligung des Namens kann im Judentum auch noch anders, und zwar als eine Art von paradoxer Identität, verstanden werden. Möglicherweise hängt diese Möglichkeit mit den tiefsten psychologischen Problemen des Monotheismus überhaupt zusammen. Das schärfste Bekenntnis zum Monotheismus, d.h., zur Einheit und Einzigkeit Gottes, findet sich dort, wo einerseits die Wirklichkeit des Bösen voll anerkannt, andererseits aber das Böse nicht dualistisch aus der Einheit Gottes ausgeschieden bzw. dieser entgegengesetzt wird. Zwei Bedingungen waren es, die im Judentum erstmals zu dieser Art von Bekenntnis führte, nämlich die Unheilserfahrung der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und des Davidischen Staates im Jahre 586 v.d.Zt. und die Konfrontation altisraelitisch prophetischen Religion mit dem persischen Dualismus. Die Solidarität der exulierten Judäer mit der neuen politischen Macht des persischen Grosskönigs schränkt der anonyme Prophet in der Tradition Jesajas durch den Hinweis ein, dass da eine Macht sei, die die Urmächte von Licht und Finsternis hervorgebracht habe und diesen noch gebiete. Diese Macht sei es, die den König Cyrus zum Herrscher bestimmt habe, und ihre Absicht war es, all dies um seines Knechtes Jakob willen zu tun. (Vgl. Jes. 45).

Die radikale Monotheismus Jesaias, für den Gott nicht nur Urheber des Guten sondern auch des Bösen ist, liess sich nicht durchhalten. Die Literatur des zweiten Tempels and späterer Epochen stellt dem gütigen Himmelsherrscher die vielen gehorsamen, aber auch die manchen ungehorsamen Engel zur Seite, die letzteren zum Anstoss all des Durcheinanders und Leidens, das sich auf Erden nun einmal abspielt. Nur in der Kabbalah, der jüdischen Mystik, wird die Einheit von Handeln und Leiden, männlich und weiblich, gut und böse, Liebe und Gerechtigkeit wieder ganz in Gott hineinverlegt, da sonst die Einheit Gottes, aber auch die Einheit des Menschen nicht recht gedacht werden konnte. Nicht nur ums Denken ging es allerdings sondern um die Wechselwirkung zwischen der oberen und unteren Welt, um die Erfahrung des Leidens und die Frage der göttlichen Mitleidenschaft, um eben die grossen Themen, die auch sonst die abendländischen, platonisierenden Mystiker bewegten.

Eine spätere, merkwürdige Variante fand diese Tradition in den befremdlichen, das Gesetz übertretenden Handlungen des Messiasanwärters Schabtai Zvi aus Smyrna, der mit solchen Handlungen den neuen Äon einzuläuten schien. Am befremdlichsten aber war, dass seine Nachfolger auch noch die spätere Zwangskonversion ihres Führers zum Islam als eine geheimnisvolle Zeichenhandlung verstanden und ihm darin nachfolgten. Ausser unter den Dönmeh im ottomanischen Reich, fanden sich viele Nachfahren der geheimen Sabbatianer auch unter der messianischen Sekte der Frankisten, die zuletzt in Offenbach bei Frankfurt residierten. In diesen Erscheinungen spiegelt sich der paradoxe Mythos des Isaak Luria vom Zerbrechen der Gefässe und den Lichtfunken in der Finsternis. Auch hierbei soll erklärt werden, wie aus der Einheit Gottes nicht nur das Vielerlei der Welt sondern gerade auch das Böse hervorgehen konnte. War es bei Schabtai Zvi zunächst noch ein Bekunden der Erlösung durch zeichenhafte Gesetzesübertretungen, so ist es bei den Frankisten die Beschleunigung der Erlösung durch einen Übergang in das Reich der Finsternis. Nicht die Heiligung des Namens sondern seine Entheiligung führt hier paradoxerweise zur Erlösung.

 

VII.

Von der zeichenhaften bösen Handlung mit erlösender Folge der religiösen Mystik ist es nur ein kurzer Schritt zur neuesten politischen Apokalyptik. Wir sahen bereits ganz zu Anfang, dass der Staat auf viele Weise zum Erben der religiösen Tabuisierung werden kann, ja dass seine Autorität von der Fähigkeit abhängt, der neue, über alle Kritik erhabene Träger heiliger Pflichten zu werden. Wir sahen ausserdem, dass der Kampf um Überwindung von Blasphemie, sei es im katholischen oder sei es im jüdischen Sinn, immer wieder mit Solidaritätserzeugung zu tun hat, wobei gemeinsame Grundwerte und Normen oder eine gemeinsame Berufung eine verbindende Rolle spielen. Keine Ereignis rückt die Heiligkeit des Staates mehr in den Mittelpunkt der nationalen Aufmerksamkeit als deren Verletzung, und keine Verletzung dieser Heiligkeit ist offenbarer als die kriegerische Handlung. So hatten die Terroranschläge vom 11. September 2001 nicht nur den Sinn, den grossen Satan und Gotteslästerer, die USA, in den Symbolen seiner Macht zu treffen (WTO: Geld, Pentagon: militärische Macht), sondern sie hatten auch die umgekehrte Wirkung, die Heiligkeit des getroffenen Staates durch deren Verletzung wiederherzustellen. Mit einem Mal gewannen Patriotismus (“United We Stand”) und Solidarität (Schröder: “uneingeschränkte Solidarität”) eine neue Kraft, die sich sogar auf die bis dahin weithin verachteten Träger dieser Macht auswirkte. Nicht nur die Welt des radikalisierten Islam sondern auch die USA sind seither in einem Fieber der gegenseitigen Verdammung. Wie schon sein Vorbild Ronald Reagan bedient sich George W. Bush der Rhetoric der Blasphemie: die Axe des Bösen bedeutet eine substantielle Identifizierung derer, die die heiligen Grundwerte der Zivilisation habituell und irreparabel verletzen und gegen die man daher mit aller Gewalt vorgehen muss.

Unsere Beobachtungen zur Blasphemie erlauben es zu konstatieren, dass der moderne, freiheitliche Staat sich deshalb so lautstark und pseudoreligiös gerieren kann, weil seine Autorität sich in der Übernahme des religiösen Tabus begründet. Wir können aber noch weiter gehen. Es bietet sich uns nämlich die Möglichkeit, das jüdische Modell hier noch einmal heranzuziehen. Den Scharfmachern um George W. Bush geht es nämlich um Abschreckung, um ein Annehmen des schlimmsten Falles hinsichtlich der Absichten des Gegners, um eine Dämonisierung des Fremden, usw. Demgegenüber wäre es im Sinne des Maimonides möglich, in dubio pro reo zu entscheiden, dem anderen also im Zweifelsfall die besten Motive zu unterstellen und, solange nicht das Gegenteil erwiesen ist, ihm die menschliche Solidarität zu bewahren. Vor allem muss man bedenken, welche Wirkung die “Stadt auf dem Berge” nach aussen hin hat, also wie die westliche Zivilisation auf die wirkt, die an unseren “Gott” nicht glauben. Haben wir nicht die Verpflichtung, zu verhindern, dass wir alle zusammen, also der gesamte Westen, Anlass zur Verlästerung unserer Werte geben, was dann der Fall ist, wenn wir es zulassen, dass diejenigen diese Werte mit Füssen trampeln, deren Führungsanspruch sich einzig und allein aus der Wahrung dieser Werte ableitet?  Es ergibt sich hieraus eine alternative  Handlungsbegründung für eine Irenik, die nicht in erster Linie auf Altruismus beruht sondern auf der gegenseitigen Verantwortung  und auf der Verpflichtung, jeder Entheiligung des eignen guten Namens in den Augen der Anderen entgegenzuwirken.



Dank an Werner Hamacher für die Anregung zu diesem Aufsatz.

[1] Zitat gefunden unter http://prhl.crosswinds.net/blasphem.htm, gelesen 23.5.2003.

[2] Vgl.: Das Gesetz Christi. Moraltheologie. Dargestellt für Priester und Laien. Freiburg i. B. 1954, 5. Aufl. 1959, 6. Aufl. 1961, 8. Aufl. 1967. Ab der 6. erweiterten Auflage in drei Bänden: Bd.1. Grundgestalt des christlichen Daseins. Allgemeine Moraltheologie; Bd.2. Leben in der Gemeinschaft mit Gott. 1. Teil der Speziellen Moraltheologie; Bd.3. Das Ja zur allumfassenden Liebesherrschaft Gottes. 2. Teil der Speziellen Moraltheologie. Übersetzungen in chinesisch, englisch, französisch, italienisch, japanisch, kroatisch, niederländisch, polnisch, portugiesisch, spanisch, ungarisch. Quelle: Biographisches-Bibliographisches Kirchenlexikon (on-line), http://www.bautz.de/bbkl/h/haering_b.shtml.
[3] Gefunden auf der Webseite von OZ veSHALOM - NETIVOT SHALOM am 20.5.2003.
[4] Aus der nachmalig berühmt gewordenen “Sikhah” (Gespräch) des Tzvi Yehudah Kook, das dieser unmittelbar vor dem Sechstagekrieg im Juni 1967 führte und das später als prophetisch empfunden wurde. Quelle: http://www.mercazharav.org/mizmor19.htm (gelesen 22.05.2003)
[5] Erläuternde Bemerkungen meinerseits erscheinen im Text in eckigen Klammern. Der Text wurde z.T. leicht umformattiert, um das Lesen zu erleichtern.