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Philosophy in Africa

Das Projekt einer globalen Ethik
und die afrikanische Philosophie

Anke Graness

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ZUSAMMENFASSUNG: Die Frage nach einer globalen Ethik stellt sich heute verschärft unfgrund der neuen Qualität gegenseitiger Abhängigkeit der einzelnen Staaten und Regionen beruhend auf einer eng verknüpften Weltwirtschaft und dem weltumspannenden Netz modernen Kommunikationssysteme. Diese Verknüpfung zeigt sich am deutlichsten in der Vernetzung transnationaler Konzerne, deren Produktionsstätten nicht mehr an nationale Territorien gebunden sind. Die Entstehung einer globalen Interdependenz hängt jedoch nicht nur mit ökonomischen Entwicklungen oder der neuen Effizienz der Kommunikationstechniken zusammen, sondern auch mit der in diesem Jahrhundert entstandenen Möglichkeit einer ökologischen oder militärischen Selbstzerstörung der Erde durch den Menschen.

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I. Einleitung

Die Frage nach einer globalen Ethik stellt sich heute verschärft aufgrund der neuen Qualität gegenseitiger Abhängigkeit der einzelnen Staaten und Regionen beruhend auf einer eng verknüpften Weltwirtschaft und dem weltumspannenden Netz moderner Kommunikationssysteme. Diese Verknüpfung zeigt sich am deutlichsten in der Vernetzung transnationaler Konzerne, deren Produktionsstätten nicht mehr an nationale Territorien gebunden sind.

Die Entstehung einer globalen Interdependenz hängt jedoch nicht nur mit ökonomischen Entwicklungen oder der neuen Effizienz der Kommunikationstechniken zusammen, sondern auch mit der in diesem Jahrhundert entstandenen Möglichkeit einer ökologischen oder militärischen Selbstzerstörung der Erde durch den Menschen. Oder wie der deutsche Philosoph Karl-Otto Apel es ausdrückt: „... das Bedürfnis nach einer universalen, d.h. für die menschliche Gesellschaft insgesamt verbindlichen Ethik [war] noch nie so dringend, wie in unserem Zeitalter einer durch die technologischen Konsequenzen der Wissenschaft hergestellten planetaren Einheitszivilisation."(1) Aus der Notwendigkeit einer solchen Ethik kann aber noch nicht auf deren Möglichkeit geschlossen werden. Deshalb scheint mir die Frage nach der Möglichkeit einer globalen Ethik zu den wichtigsten unserer Zeit zu gehören.

Verschiedene Ethikprojekte, wie die Diskursethik in Deutschland oder die Befreiungsethik in Lateinamerika, haben nun den Versuch unternommen, eine Ethik mit Anspruch auf universale Gültigkeit zu begründen, die kulturelle, religiöse, politische etc. Unterschiede transzendiert. Solche Projekte müssen einer gründlichen Prüfung unterzogen werden, wozu vor allem auch eine intersubjektive Überprüfung von Vertretern unterschiedlicher kultureller Kontexte gehört. Meine These ist, daß eine Ethik solange keinen Anspruch auf universale Gültigkeit erheben kann, solange sie nicht einer interkulturellen Prüfung unterzogen wurde, oder wie der österreichische Philosoph Franz Wimmer es formuliert:„... halte keine philosophische These für gut begründet, an deren Zustandekommen nur Menschen einer einzigen kulturellen Tradition beteiligt waren."(2)

Dieser „kategorische Imperativ" der interkulturellen Philosophie ist natürlich kein ausreichendes Kriterium zur Bestimmung des Wahrheitscharakters einer Theorie, aber wohl ein unverzichtbares. In einer solchen „interkulturellen Prüfung" sollen Theorien auf ihre Relevanz für verschiedene Kontexte und Orientierungssysteme hin geprüft und mit anderen Theorien aus anderen Kontexten konfrontiert werden. Es geht darum, Antworten auf Sachfragen, Lösungen für Konfliktsituationen zu finden, die auf mehr als einen Kontext anwendbar sind.

Da sich nun jede universale Ethik von ihrem jeweiligen soziohistorischen Kontext her den Problemen des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems stellen muß, sind Analysen einer asiatischen, lateinamerikanischen, europäischen, oder eben afrikanischen Philosophie zu einer globalen Verantwortungsethik nicht nur für den eigenen Kontext von Bedeutung. Aus diesem Grunde möchte ich mich heute Ansätzen aus der afrikanischen Philosophie widmen.

II. Entwürfe einer afrikanischen Ethik

Bevor ich auf afrikanische Ethikprojekte und ihre Relevanz für eine globale Ethik zu sprechen komme, macht es sich nötig, einige Begriffsverwendungen zu klären, um Mißverständnisse zu vermeiden: Wenn ich von „afrikanischer Ethik" oder Philosophie rede, dann ist das natürlich eine sprachliche Verkürzung. Natürlich gibt es weder die afrikanische Ethik, noch die afrikanische Philosophie. Benutze ich diese Wendungen, beziehe ich mich damit auf Philosophie bzw. Ethik wie sie heute an Philosophieinstituten des subsaharischen Afrika produziert wird.

Viele Entwürfe einer afrikanischen Ethik zeichnen sich zumeist durch den Versuch aus, auf Denkansätze oder Entscheidungsfindungsverfahren traditioneller, vorkolonialer afrikanischer Gesellschaften zurückzugreifen. Damit gehen afrikanische Philosophen und Philosophinnen einen völlig anderen Weg als viele andere Ethikprojekte unserer Zeit. Dies liegt sicherlich in der besonderen Geschichte der gegenwärtigen afrikanischen Philosophie begründet, die in den letzten 30 Jahren einen sehr eigenständigen Weg der Selbstverständigung gegangen ist. Im Zentrum stand dabei die Frage nach einer „afrikanischen Identität" bzw. der Identität einer afrikanischen Philosophie und damit der Versuch, europäische Vorurteile zu überwinden, ein positives Gegenbild zu schaffen und Wege aufzuzeigen, die heute, in der Situation des Postkolonialismus (als Schnittpunkt verschiedener Referenzsysteme), gangbar sind. Diese Versuche sind im wesentlichen dadurch gekennzeichnet, daß 1. sich exklusiv mit Afrika, seiner Geschichte, seinen Werten und Traditionen auseinandergesetzt wird und 2. Afrika ausschließlich im Verhältnis zu Europa und Nordamerika bestimmt wurde.(3) Erst seit den 90er Jahren zeichnet sich ein Wandel ab, eine Hinwendung zu den brennenden Problemen des Kontinents, welche auch eine globale und interkulturelle Perspektive notwendig machen.

So gehen auch viele Ethikprojekte von der spezifisch afrikanischen Situation aus und zielen auf eine Lösung der Wertkrise in den afrikanischen Staaten der Gegenwart. Oft wird dabei der Versuch unternommen, im Rückgriff auf traditionelle moralische Anschauungen eine Ethik zu schaffen, die der heutigen Problemsituation gerecht wird. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist, daß das importierte System der westlichen Demokratie und westliche Wertvorstellungen den afrikanischen Gesellschaften nicht adäquat sind, wie der ethnische Mißbrauch des Parteiensystems, das Ansteigen der Kriminalität etc. offenbar zeigen. Diese Inkompatibilität westlicher Systeme wird oft damit begründet, daß dem afrikanischen Denken die Vorstellung vom autonomen Individuum, die diesen politischen und moralischen Vorstellungen zugrunde liegt, fremd sei und hier eher das Gemeinschaftsgefühl, die Verantwortung des Einzelnen für die Harmonie der Gemeinschaft im Mittelpunkt stehe. Ob diese Einschätzungen zutreffen, eine Kategorisierung „westliches" und „afrikanisches" Denken sinnvoll ist und die Systeme kompatibel sind oder nicht, soll hier nicht weiter diskutiert werden. Ich stehe einem solchen Herangehen im Allgemeinen skeptisch gegenüber. Für sehr legitim halte ich es jedoch, auf Denkansätze oder soziale Institutionen früherer Zeiten im Versuch, neue Visionen zu schaffen, zurückzugreifen.

Ich möchte hier auf zwei Ethikprojekte aufmerksam machen, die zum einen auf traditionelle Vorstellungen zurückgreifen, zugleich jedoch Anspruch auf universale Gültigkeit erheben.

2.1. Wiredus Konsensethik

Ein interessanter Ansatz für eine globale Ethik scheint mir das, was ich bei Kwasi Wiredu eine „Konsensethik"(4) nennen möchte bzw. was Bénézet-Bujo „Palaverethik"(5) nennt, zu bieten.

Beide gehen davon aus, daß die Entscheidungsfindung im traditionellen Afrika per Konsens stattgefunden habe. In interpersonalen Beziehungen zwischen Erwachsenen wurde der Konsensus als Basis gemeinsamer Aktionen als axiomatischen angesehen. Dieser Konsens bestand darin, daß jedes Mitglied eines bestimmten Rates, einer Gruppe, einer Gemeinschaft von der bestmöglichen Lösung überzeugt werden konnte. Ziel eines jeden Konsensus war dabei die Versöhnung, Grundlage der Wille zu einem harmonischen Miteinander. Ein solcher Konsens könne nur in langen Gesprächen und in einem langen Prozeß des Überzeugens, dem Palaver, hergestellt werden. Zum Palaver werden die weisesten Vertreter des Volkes aufgerufen, wenn es um eine wichtige Entscheidung geht, die das Volk als Gemeinschaft betrifft. Diese Weisen gehören keiner offiziellen Institution an, es zählt allein Kompetenz und Erfahrung. Sie leben im Alltag mit und unter dem Volk, so daß ihr Argumentieren das Interesse dieses Volkes existentiell und im Detail trifft. Um eine Lösung zu finden werden Erfahrungen ausgetauscht, es wird ebenso die gesamte Geschichte der Sippe mit in Betracht gezogen, die Interessen der Lebenden und der Toten. Das kann ein langwieriges Verfahren sein, denn die Interessen aller Betroffenen sollen berücksichtigt werden. Die getroffene Entscheidung wird verallgemeinert und verbindlich für alle.

Mehrheiten durch Abstimmungen herzustellen, wie es in Mehrparteien-Demokratien üblich ist, hält Wiredu für wesentlich leichter.(6) Dabei werde jedoch die Minorität in ihrem Recht der Repräsentation unterdrückt. Eine substantielle Vertretung des einzelnen Willens könne in einem solchen System nicht gewährleistet werden. Diese sei aber ein grundlegendes Menschenrecht und deshalb durch Konsensfindung zu sichern.

Interessant an diesem Projekt ist nun das Konsensprinzip, welches ja auch zum Grundprinzip der Diskursethik von Apel und Habermas gehört. Allerdings scheint hier ein anderer Weg der Herstellung eines Konsensus beschritten zu werden. Während es bei Apel und Habermas um die Herstellung eines Konsensus zwischen allen Betroffenen durch das Mittel eines herrschaftsfreien, gewaltlosen und gleichberechtigten rationalen Diskurses geht, wobei alle, die nicht rational argumentieren können, advokatorisch vertreten werden, scheint der durch ein Palaver hergestellt Konsens ein anderer zu sein. Denn hier sind nach Bénézet-Bujos Aussage auch alle Ahnen und Geister beteiligt, die schwerlich rational argumentieren können. Bénézet-Bujo kritisiert die advokatorische Vertretung sogar ausdrücklich als Unterdrückungsprinzip. Hier ist sicherlich ein sehr wichtiger Punkt getroffen, der auch innerhalb der Diskursethik sehr umstritten ist: Wie können die Interessen all jener vertreten werden, die nicht rational argumentieren können, wozu auch die durch Zerstörung bedrohte Tier- und Pflanzenwelt gehört.

Leider sind die bisherigen Aussagen der Konsensethik von Wiredu und Bénézet-Bujo noch nicht detailliert genug, um hier eine streitbare Alternative zur Diskursethik zu bieten. Doch daran sollte weitergearbeitet werden. Dabei sind sicherlich konkretere Nachforschungen notwendig, wie Konsense in traditionellen afrikanischen Gesellschaften hergestellt worden und ob diese Wege in unserer heutigen Welt noch anwendbar sind. Zudem sollten Überlegungen angestellt werden, welche Methoden möglich sind, um ein substantielles Recht der Interessenvertretung zu sichern, ohne auf das westliche Prinzip der Demokratie zurückzugreifen.

2.2. Die „Parental Earth Ethics" von H. Odera Oruka (Kenia)(7)

Ähnlich wie Apel geht Odera Oruka in seiner Situationsanalyse unserer Zeit davon aus, daß das globale Überleben der Menschheit so sehr gefährdet ist, wie noch nie zuvor. Die Ursache für das selbstzerstörerische, wenn auch sehr erfolgreiche, System des Kapitalismus, das nicht nur zu sozialer Ungleichheit, sondern vor allem auch an den Rand einer ökologischen Katastrophe geführt hat, lokalisiert Odera Oruka im jüdisch-christlichen Individualismus. Dieser ist, nach Odera Oruka, ein besitzergreifenden Individualismus, welcher das „komplexe Netz des Seins", von welchem die Menschen ein Teil sind, zerstört, und somit die Ursache für die globale Umweltzerstörung, mit der wir uns heute konfrontiert sehen. Aus diesen Gründen scheint ein Wechsel der erkenntnistheoretischen Perspektive notwendig zu sein, hin zu einer Perspektive, in welcher die Menschheit als Teil der Natur angesehen wird. Diese neue Perspektive nennt Odera Oruka „Parental Earth Ethics" (ursprüngliche Erdethik).

Während ethische Konzepte in der Geschichte sich meist auf das Wohlergehen des Individuums konzentrieren, ist Odera Orukas Ethik ecozentrisch statt anthropozentrisch. Sein Ansatz unterscheidet sich von solchen traditionellen Konzepten, in welchen die Natur nur der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Menschheit dient, grundlegend durch ihre Konzentration auf das gesamte „Netz des Seins", die Totalität der Natur. Es sei notwendig, alle anthropozentrischen, utilitaristischen Auffassungen hinter sich zu lassen, argumentiert Odera Oruka, und zu einem holistischen Herangehen zu finden, in welchem die ‘interrelatedness’ der Teile berücksichtigt wird. Denn die Erde ist ein Netzwerk, in welchem keine Spezies unabhängig von der anderen existieren kann. Eine „Parental Earth Ethics" könnte nun der Komplexität und Totalität der Natur Rechnung tragen und die Basis werden, auf welcher verschiedene Kulturen ihre Umweltwahrnehmung begründen.

Odera Oruka bedient sich der Metapher der Familie, um unsere heutige Weltsituation zu charakterisieren. Eine Familie sei dadurch gekennzeichnet, daß es einen gemeinsamen Ursprung der Mitglieder gebe. Der unterschiedliche Erfolg der Kinder hänge von unterschiedlichen Faktoren ab: der gemeinsamen Familiengeschichte, persönlichem Glück, individuellen Talenten etc.

Nach Odera Oruka gibt es zwei Prinzipien auf welchen die Beziehungen des Individuums zur Familie beruhen:

1. The parental debt principle (ursprüngliche Schuldregel)

2. The individual luck principle (das Prinzip des individuellen Glücks)

Diese zwei Grundregeln können in weitere spezifische Regeln unterteilt werden: 1. Regeln, die bestimmte Verpflichtungen beschreiben, welche ein Individuum seiner Familie gegenüber hat und 2. Regeln, welche dem Schutz des individuellen Eigentums und dem Recht, den persönlichen Überschuß zu seinem eigenen Nutzen zu verbrauchen, dienen. Diese Regeln sind:

1a) Familiensicherheitsregel, 1b) Verwandtschaftsschamregel, 1c) ursprüngliche Schuldregel, d.h. niemand ist allein für sein Unglück verantwortlich, 1d) die individuelle und Familienüberlebensregel. Diese Regel erlaubt es dem Benachteiligten, um Unterstützung anzufragen.

2a) die Regel persönlicher Bereicherung, 2b) Regel des persönlichen Überschusses, 2c) familiäre Öffentlichkeitsregel.

Im Falle eines Konflikts habe das „parental debt principle" immer Vorrang vor der individuellen Glücksregel. Während also das zweite Prinzip sichert, daß jeder individuell und frei entscheiden kann, was er tun, wie er sein Leben leben und seinen Besitz ausgeben möchte, schränkt das erste Prinzip diese Freiheit ein auf der Grundlage der Verantwortung für die Mitglieder der Familie. „... fate and security (physical or welfare) of each of the members is ultimately bound up with the existential reality of the family as a whole."(8)

Oder Oruka betont, daß er das Bild der Familie gewählt habe, weil ohne das Element der Verwandtschaft bzw. der organischen Einheit der Natur keines der Argumente der gegenwärtigen Umweltschützer bindend für alle Menschen und Nationen wäre.

Odera Oruka schlägt die „Parental Earth Ethics" als eine Basisethik vor, welche einen Ansatz biete für globalen Umweltschutz und eine globale Umverteilung des Reichtums der Nationen. Denn die „Parental Earth Ethics" sei mehr als eine Umweltethik: erst das Zusammenspiel zwischen Sozialtheorien und ökologischem Denken werde dem „komplexen Netz des Seins" gerecht.

So finden wir bei Odera Oruka schon in seinem Artikel „The Philosophy of Foreign Aid"(9) von 1989 erste Ansätze eines Versuchs einer universalen Ethik. Ausgehend vom Problem der Entwicklungshilfe, der ungleichen Verteilung der Güter und dem Problem einer internationalen Gerechtigkeit, entwirft Odera Oruka das Prinzip einer globalen Gerechtigkeit. Er geht dabei davon aus, daß eine Ethik, die einem universalistischen Anspruch gerecht werden will, Gerechtigkeit vor allem hinsichtlich der existentiellen Bedürfnisse sichern müsse. Erst auf dem Niveau eines bestimmten menschlichen Minimums können die Menschen moralische Entscheidungen treffen und sind befähigt, moralisch zu handeln. Das Fehlen eines solchen Minimums macht die Teilnahme an einem Entscheidungsfindungsprozeß unmöglich. Da ein solches Recht auf ein menschliches Minimum nicht auf Prinzipien territorialer Gerechtigkeit gegründet werden könne, sei ein neues Prinzip globaler Gerechtigkeit nötigt, welches ein neues Menschen- und Weltbild voraussetze. Eine globale Gerechtigkeit sei nur möglich, wenn vom Paradigma der Gleichheit gewechselt werde zur Verantwortung für den Anderen.

„For all human beings to function with a significant degree of rationality and self-awareness, they need a certain minimum amount of physical security, health care, and subsistence ... Below this minimum one may still be human and alive. But one cannot succesfully carry out the functions of a moral agent or engage in creative activity."(10)

Ich denke, mit dieser Formulierung greift Odera Oruka in die Debatte um die Möglichkeit einer universalen Ethik ein. Mit seiner Forderung nach einem „human minimum" formuliert Odera Oruka ein sehr wichtiges Grundprinzip für eine globale Ethik und gleichzeitig einen Einwand gegen das bereits erwähnte Projekt der Diskursethik: Die Diskursethik bewegt sich mit ihrem formalen Ansatz einer globalen Ethik bereits auf einer Ebene „fleischloser Abstraktion", wie der mexikanische Philosoph Enrique Dussel es formuliert. Apel setzt in seiner Ethik das Argumentieren als letzte, nicht mehr hintergehbare Größe. Dabei vergißt er jedoch, daß 75% der Menschheit von allen relevanten Diskursen ausgeschlossen sind, und zwar durch die herrschenden Machtverhältnisse und Lebensbedingungen, die ihnen die Sicherung eines existentiellen Minimums verweigern. Ohne dieses kann jedoch nicht an moralischen Diskursen teilgenommen werden.

Hier scheint mir der Einspruch der lateinamerikanischen Befreiungsethik, zu deren Begründern Dussel gehört, wohlbegründet. Die Befreiungsethik setzt nicht erst beim Argumentieren an, sondern beim Einspruch (Interpellation) des Anderen, welcher das Recht auf Meinungsäußerung zunächst einklagen müsse.(11) Odera Orukas Argument, daß die Sicherung gewisser existentieller Bedingungen die Voraussetzung moralischen Handelns überhaupt sei, bestärkt den Einwand der Befreiungsethik gegen die Diskursethik. Aber natürlich sind auch hier die Fragen heranzutragen, die Odera Oruka, wie auch die Befreiungsethik mit ihrem Grundbegriff des „Lebens" unbeantwortet lassen, z.B., was das „human minimum" sei, wer es festlege, ob es bei allen Menschen gleich sei und wie es gesichert werden könne? Zu fragen ist auch, wie eine neue Gerechtigkeit herzustellen ist, bzw. das von Odera Oruka geforderte neue Bewußtsein über unsere Einbindung in ein komplexes „Netz des Seins". Neben der Familienmetapher, der sicherlich afrikanische Vorstellungen vom Funktionieren einer „extended family" zugrunde liegen, erwähnt Odera Oruka nur kurz Denkansätze anderer Traditionen, die dieser Einbindung gerechter werden (indische Philosophie, Kosmologien Hawaiis oder der Dogon). Genau diese sind aber näher zu untersuchen und fruchtbar zu machen, um zu einem Bewußtseinswandel im Sinne einer „Parental Earth Ethics" zu führen, eine Aufgabe, die der viel zu früh verstorbene Odera Oruka selbst leider nicht mehr in Angriff nehmen kann.

Odera Oruka vertritt mit seinem explizit auf den Schutz von Mensch und Natur gerichtet Ansatz ein Modell, das sowohl von Diskursethik wie auch Befreiungsethik in Betracht gezogen werden sollte. Hier bietet sich eine interessante Möglichkeit nicht nur für einen Nord-Süd, sondern auch für einen, längst überfälligen, Süd-Süd-Dialog, auf jeden Fall jedoch für einen fruchtbaren Polylog der Traditionen.

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Notes

(1) Karl-Otto Apel: Transformationen der Philosophie. Bd. II: Das Apriorie der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt/M. 1973, S. 359.

(2) F.M. Wimmer: Polylog der Traditionen im philosophischen Denken. Universalismus versus Ethnophilosophie? in: DIALEKTIK 1996/1, S. 93.

(3) Auf diese Gefahr macht Appiah aufmerksam: „If there is a lesson in the broad shape of this circulation of cultures, it is surely that we are all already contaminated by each other, that there is no longer a fully autochthonous echt-African culture awaiting salvage by our artists (just as there is, of course no American culture without African roots). And there is a clear sense in some postcolonial writing that the postulation of a unitary Africa over against a monolithic West—the binarism of Self and Other—is the last of the shibboleths of the modernizers that we must learn to live without." in: Appiah, K.A.: In my Father’s House. Africa and the Philosophy of Culture. New York 1992, S. 155.

(4) Kwasi Wiredu: Democracy and Consensus in African Traditional Politics. in: Conceptual Decolonization in African Philosophy. Four Essays. Selected and Introduced by Olusegun Oladipo. Ibadan 1995, S. 55ff.

(5) Bénézet-Bujo: Die ethische Dimension der Gemeinschaft. Das afrikanische Modell im Nord-Süd-Dialog. Freiburg 1993.

(6) Wiredu, 1995, S. 57.

(7) H. Odera Oruka/Calestous Juma: Ecophilosophy and Parental Earth Ethics (On the Complex Web of Being) in: Philosophy, Humanity and Ecology - Philosophy of Nature and Environemental Ethics. Hg.: H. Odera Oruka. Nairobi 1994, S. 115-129. Und: Anke Graness/Kai Kresse (eds.): Sagacious Reasoning. H. Odera Oruka in memoriam. Frankfurt/M. 1997, S. 119- 131.

(8) H. Odera Oruka: Parental Earth Ethics. in: Quest 7, S. 25. Und in: Graness/Kresse, S. 119-131

(9) H. Odera Oruka: The Philosophy of Foreign Aid: A Question of the Right to a Human Minimum. in: Praxis International 8, S. 465-475. Und in: Graness/Kresse, S. 47-59.

(10) in Graness/Kresse, S.53.

(11) Vgl. Dussels Beitrag in: Fornet-Betancourt: Diskursethik oder Befreiungsethik? (Concordia Reihe Monographie. Bd. 6 ) Aachen 1992. S. 113. ders.: Filosofia ética de la liberation. Mexico. 1977. ders.: Filosofia ética latinoamericana. Bogotá. 1979. Ähnlich argumentiert Axel Honneth. Auch er merkt an, daß die Bedingungen eines Diskurses allererst herzustellen seien.

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