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Comparative Philosophy

Selbstüberschreitung:
Jonas Cohns Wertphilosophie und Pädagogik vor dem Hintergrund der Ethik Friedrich Nietzsches

Anselm Model

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ABSTRACT: Teaching philosophy and pedagogy at the University of Freiburg from 1897 to 1933, Jonas Cohn fought mainly against Friedrich Nietzsche and the influence of the ethics of Nietzsche on the youth of his time. A declaration made by Cohn in the Preface of his Science of Value (1932) shows this: "The title 'science of value' means polemics, too: I fight against all, who following Nietzsche deny the possibility of a science of value." But this opposition to Nietzsche and to his followers is not the only aspect of Cohn's relation to Nietzsche. On the other side, Cohn attempted to integrate some of the important traits of Nietzsche's ethic in his own conception of philosophy and pedagogics. The expression "self-transcendence" (Selbstüberschreitung) stands for this ambition of Cohn. This can be demonstrated by some biographical data and by the interpretation of Cohn's philosophy of value.

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"'Wertwissenschaft' ist auch polemisch gemeint: Ich kämpfe gegen alle, die im Gefolge Nietzsches eine Wissenschaft vom Werte leugnen." - Diese eindeutige Erklärung stellte der reife Jonas Cohn, Philosoph und Erziehungswissenschaftler an der Universität Freiburg von 1897 bis 1933, seiner "Wertwissenschaft" von 1932, seinem Hauptwerke, im Vorwort voran. Hat Jonas Cohn seine Lebensarbeit gegen Friedrich Nietzsche und dessen Wirkung ausgerichtet? Ich möchte diese, von Cohn selbst nahegelegte, Auffassung relativieren und aufweisen, daß Cohns Wertphilosophie und Erziehungslehre trotz weitreichender Differenzen Züge Nietzschischen Geistes aufgenommen hat. Der Titel und Grundbegriff der Cohnschen Ethik "Selbstüberschreitung" signalisiert nicht nur Parallelität und Nähe zu Nietzsche; "Selbstüberschreitung zeigt auch an, daß Cohn Intentionen Nietzsches, Momente des für Nietzsche signifikanten Begriffs der "Selbstüberwindung" in seine "objektive Wertlehre" übergeführt hat. Ich werde zunächst anhand einiger biographischer Daten die Bedeutung Nietzsches für Cohn wahrscheinlich machen, bevor der Inhalt der Wertphilosophie und Ethik Cohns selbst kurz zur Sprache kommen soll.

Drei Momente sind auszuführen, die Cohn in seiner Biographie mit Nietzsche konfrontierten: Zeitliche und örtliche Nähe zu Nietzsche und die persönliche Begegnung mit Denkern, die Cohn beeinflußten.

Jonas Cohn (1869-1947) studierte nach einem glänzenden Abitur in Berlin (1888) zunächst in Leipzig, Heidelberg und Berlin Naturwissenschaft und promovierte mit einer experimentellen Arbeit in Botanik in Berlin 1892 zum Doktor der Philosophie. Nach der Promotion in Botanik wandte sich Cohn dem engeren Gebieten der Philosophie zu, ohne dabei zu unterlassen, seinem "geistigen Leben durch empirische Einzelarbeit gleichsam einen festen Unterbau zu schaffen". (SD, (1) S. 6) Diesen empirischen Unterbau erwarb sich Cohn in der experimentellen Psychologie bei Wilhelm Wundt (1832-1920) und Oswald Külpe (1862-1915) in Leipzig, wo Cohn in den Jahren 1892 bis 94 am Psychologischen Institut arbeitete. Mit den Interessen an Psychologie und Biologie zeigte Cohn geistige Verwandtschaft zu Nietzsche. Nietzsche hatte eine Zeitlang ernsthaft überlegt, Medizin zu studieren und auch mit einer Arbeit über Grundlagenfragen zur Biologie, mit dem "Problem der Teleologie seit Kant", eine Promotion in Philosophie ins Auge gefaßt. Offene Grundlagenfragen der Biologie hatten Cohns Interesse an Philosophie verstärkt und ihn schließlich dazu bewogen, ganz zur Philosophie überzuwechseln. Die letzte These seiner botanischen Dissertation dokumentiert bereits diese Tendenz und Cohns Übergang zur Philosophie: "Alles Endliche ist der Naturerkenntnis zugänglich. Das Absolute und Ewige dagegen bleibt für immer unlösbares Rätsel."

Trotz der Hinwendung zur Philosophie, Erkenntnistheorie, Wertphilosophie und Pädagogik wird Cohn jedoch die Diskussion um die Grundlagen der Biologie aufmerksam weiterverfolgen und den Kontakt zu führenden Biologen zeit seines Lebens aufrechterhalten. Bezüge zur Biologie sind fast in allen seinen großen Arbeiten präsent. Ende der 20er Jahre initiierte Cohn überdies einen interdisziplinären Gesprächskreis in Freiburg ("Pentathlon") (2) mit dem Ziel die Fachgrenzen im Sinne der alten Universitätsidee zu überwinden, woran sich u.a. der Botaniker Friedrich Oelkers (1890-1971), der Zoologe und Nobelpreisträger Hans Spemann (1869-1941) und dessen Freund, der Psychiater und Biologe Gustav Wolff (1865-1941) aus Basel beteiligten. (3)

Cohn, der sich selbst als philosophischer Autodidakt bezeichnete, hatte während seines Studiums in Leipzig, Heidelberg und Berlin auch philosophische Vorlesungen und Übungen besucht, von denen ihn aber - wie er meinte - keine "dauernd bestimmt" habe. Diese Aussage Cohns ist mit Fragezeichen zu versehen, scheint doch ihn Johannes Volkelt (1848-1930) langfristig in seinem Verhältnis zu Nietzsche (und Hegel) beeinflußt zu haben. Cohn hat bei dem 1894 nach Leipzig berufenen Johannes Volkelt im Sommersemester desselben Jahres ein pädagogisches Seminar zum Thema: "Theorie der Tragödie" besucht. 1918 wird Cohn zur Festschrift für Johannes Volkelt den Aufsatz: "Das Tragische und die Dialektik des Handelns" beitragen. Wenn die "Theorie der Tragödie" ein Schwerpunkt des Volkeltschen Denkens bildete, dann ist dies auch vor dem Hintergrunde des entsprechenden Frühwerkes Nietzsches, "Der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (1870/71) zu sehen. Denn Volkelt - vier Jahre jünger als Nietzsche - erhielt sein erstes Ordinariat für Philosophie in Basel. Es war damals (1883) kaum vier Jahre her, daß Nietzsche dort sein Professorenamt niedergelegt hatte. Die Begegnung mit Nietzsches Werk bedeutete eine entscheidende, vielleicht die entscheidende geistige Krise im Leben Volkelts. In seiner Selbstdarstellung von 1921 bemerkt Volkelt dazu: "Wie kaum ein anderer Philosoph, hat Nietzsche erregend und aufwühlend auf mich gewirkt. Gerade weil ich ihm, besonders den Schriften seiner Frühzeit, manche Befreiung meines Denkens und Wertens verdanke und mir die Beschäftigung mit seiner Philosophie zu einer Angelegenheit persönlichen Erlebens wurde, empfand ich andere Seiten seiner Philosophie (und sie überwiegen bei dem späteren Nietzsche) als mich im Innersten verwundend und kränkend. Jetzt erst darf ich sagen, daß ich Nietzsche innerlich verarbeitet habe und - negativ wie positiv - durch ihn hindurchgegangen bin." (4)

Die Studentengeneration Cohns nimmt in Anspruch, Nietzsche als erste für sich entdeckt zu haben. Bei dem um zwei Jahre jüngeren Freund Cohns, dem Journalisten und Historiker Gustav Mayer (1871-1948), (5) lesen wir in seinen Erinnerungen: "Nietzsches Namen erwähnten die Professoren, die über Geschichte der Philosophie lasen, damals entweder noch gar nicht oder sie taten ihn mit ein paar spöttischen Bemerkungen ab. Heute mag man mit Recht fragen, ob sich Nietzsches Einfluß auf jene Jugend der neunziger Jahre, die diesen leuchtenden Geist zuerst für sich entdeckte, auf eine Weise äußerte, die des Denkers eigenen Intentionen entsprach oder sie verkannte." (G. Mayer, Erinnerungen, Zürich/Wien 1949, S. 41). Und weiter heißt es dort: "Unsere Generation berauschte sich gern an großen Worten und huldigte mit Vorliebe überlebensgroßen Erinnerungen. Unsere Phantasie blendete, auch nachdem der Schöpfer des "Über-Menschen" selbst tragisch zusammengebrochen war, noch das Bild dieses Genius, den das Gefühl beherrscht haben mußte: ich und die Wahrheit gegen eine Welt, ich allein mit meiner Idee von der Umwertung aller Werte. Die Tendenz des Zarathustra deutete ich mir so, daß sein Schöpfer, mit der Entwicklungslehre Darwins ernst machend, die Höherzüchtung des Typus Mensch an die Stelle des liberalen Fortschrittsglaubens setzte und jenseits des Gegensatzes von Gut und Böse, in dem sich die bisherige Art des Werkens erschöpfte, eine neue Ethik aufpflanzen wollte, deren Sinn die Züchtung des Übermenschen war." (Ebd., S. 42)

Wenn Cohn sich später gegen gewisse Einflüsse Nietzsches wendete, dann dürfte ihn dieses Nietzsche-Bild, das Mayer gezeichnet hat, dabei mitbestimmt haben. (6)

Ein starkes Interesse an ethischen Fragen mit sozialpädagogischem Einschlag, das auch öffentlichen Unwillen in Kauf nahm, teilte Cohn mit Nietzsche. So trat Cohn bereits im Gründungsjahr 1892 dem "Verein für ethische Kultur" bei und übernahm in einer kritischen Situation die Leitung der Leipziger Sektion dieses Vereins, nachdem der bisherige Vorsitzende, der Philosoph und Soziologe Paul Barth, zurückgetreten war. Das Kultusministerium hatte Barth gedroht, ihm das Lehramt wegen dieses Amtes zu entziehen.

1897 habilitierte sich Cohn bei Heinrich Rickert (1863-1936) in Freiburg. Im persönlichen Umgang mit Heinrich Rickert und in Auseinandersetzung mit den Schriften Rickerts gewann sein Denken - wie Cohn später bekannte - an Bestimmtheit. Rickert habe ihn, wie es in einem Entwurf Cohns zu einem Schreiben an die Witwe Rickerts heißt, vor allem gelehrt, "das Ewige im Zeitlichen festzuhalten." Rickert hatte sich schon früh mit Nietzsche beschäftigt und für diesen interessiert. Nach Erinnerungen Glockners - eines jüngeren Schülers Rickerts - hat Rickert seiner Frau nur schwer verzeihen können, daß sie ihn einst von einem bereits festgesetzten Besuch bei Nietzsche in Sils-Marie abhielt. (7) Ein vorzügliches Gesprächsthema mit seinem Amtsvorgänger und Habilitationsvater in Freiburg, mit Alois Riehl (1844-1926), soll für Rickert "die Philosophie Nietzsches" gewesen sein. Alois Riehl hatte bereits 1897 als einer der ersten Universitätslehrer eine Monographie über Nietzsche mit dem Titel "Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker" veröffentlicht. Diese noch heute lesenswerte Einführung in Nietzsches Denken ist "von einer sympathetischen Stimmung des Verfassers" (8) geführt. Wenn Cohn sich bei seiner eigenen Nietzsche-Darstellung von 1925 offenbar stark an Riehls Buch orientiert hat, spricht das daher nicht gegen Cohn, sondern für seinen Willen zur Objektivität.

Jonas Cohn, der ausschließlich in Freiburg gelehrt hatte und von den Nationalsozialisten 1933 vorzeitig aus seiner Professur für Philosophie und Pädagogik entlassen worden ist, hat an der Universität neben pädagogischen und psychologischen Übungen 41 philosophische Übungen gehalten. Soweit ich sehe, war keine Übung Nietzsche gewidmet. Auch keine der neunzehn Dissertationen, die Cohn anregte, betrifft Nietzsche. Cohn hat zu einzelnen Denkern über ein Semester lang wiederholt Vorlesungen gehalten. Nietzsche war nicht darunter. Den Vorrang nimmt dabei Goethe mit sieben Semestern ein, gefolgt von Kant mit fünf Semestern. Ein Semester galt ausschließlich Hegel. In den Vorlesungen über "Neueste Philosophie seit Hegel", die Cohn nach seiner eigenen Aufstellung dreimal gehalten hat, dürfte Nietzsche allerdings mit abgehandelt worden sein. Auch in den Vorlesungen zur "Philosophie der gegenwärtigen Kultur" (Sommersemester 1912), " Einführung in das Verständnis der Gegenwart" (Kriegssemester 1919), "Philosophie der Kultur" (Sommersemester 1926) und "Leben, Seele, Geist" (Sommersemester 1932) könnte Nietzsche thematisch geworden sein. (9) Wenn so Nietzsche bei der Lehrtätigkeit Cohns offensichtlich nur eine untergeordnete Rolle eingenommen hat, hat Cohn sich wohl dennoch intensiv mit Nietzsche beschäftigt und sein Nietzsche-Bild nicht allein aus zweiter Hand, sondern - wie zahlreiche Hinweise zu Nietzsche in seinen Werken und seine Nietzsche-Darstellung innerhalb des Buches "Die Philosophie im Zeitalter des Spezialismus" (1925) belegen, auch durch gründliche Kenntnis der Werke Nietzsches selbst gewonnen. (10) Cohn beschließt die Nietzsche-Darstellung mit einer Kritik: "Zu der höchsten Form der Selbstüberwindung, der Überwindung der Willkür des Selbst durch Erkenntnis der Norm, die das Selbst erst zum Selbst macht, ist er (Nietzsche) nicht mehr fortgeschritten." Cohn setzt dieser unvollendet ausgeführten "Selbstüberwindung" Nietzsches, die der Sphäre des Subjektes verhaftet bleibt, den Gedanken der "Selbstüberschreitung" entgegen und konzipiert eine an der Idee objektiv geltender Werte orientierte Wertphilosophie, Ethik und Pädagogik.

Hatte Cohn in der programmatischen Habilitationsschrift "Beiträge zur Lehre von den Wertungen" (1897) unter dem Einfluß von Georg Simmel (1858-1918) noch einen Relativismus hinsichtlich der Geltung außerlogischer Werte vertreten, so nimmt er bereits in der "Allgemeinen Ästhetik" von 1901 beeinflußt von Rickert und in Auseinandersetzung mit kantischen Ideen davon wieder Abstand. Cohn erkennt jetzt Wege, auch die Geltung ästhetischer Werte allgemein und hinreichend zu begründen. Er beruft sich dabei auf einen "reduktiven" (auf das Ganze der Kulturentwicklung bezogenen) Aufweis und auf ein "Verfahren teleologischer Ergänzung", das den Sachverhalt gegenseitiger Bedürftigkeit von Wertgebieten anerkennt. Beide Beweisarten, die teleologische wie die reduktive, wird Cohn in der "Wertwissenschaft" von 1932 erneut aufgreifen. Darüber hinaus hat nun Cohn ausdrücklich die Dialektik als weiteres formales Element in die Wertwissenschaft aufgenommen, eine Dialektik, von der Cohn glaubte, sie entscheide endgültig über den Fortschritt und die Umformung der Wertlehre zur Wertwissenschaft. Grundprobleme der Wertwissenschaft, wie Phänomene von Werterkennen, Wertkonflikte und ethische Entscheidungen, lassen sich - so hat Cohn erkannt - nur als dialektische Prozesse angemessen begreifen.

Drei Maximen regulieren die Dialektik Cohns: die Lehre vom "Utraquismus", der Satz vom "Vorrecht der Bejahung" (Prävalenz des Positiven) und der Satz "von der kritischen Kraft der Verneinung" (Negation).

Bei der Urteilstheorie, in der Cohn mit anderen Neukantianern die Grundlagen der Erkenntnistheorie sucht, zeigt Cohn auf, daß in jeder Urteilsmaterie noch Denkfremdes steckt, das ins Denken aufgenommen werden soll. Konsequente Analyse und intellektuelle Redlichkeit sehen in diesem Sachverhalt eine Dialektik des Erkenntnisprozesses verborgen, sofern Erkenntnis dem Ideal der Vollständigkeit nachstrebt, Wahrheit die Richtigkeit des einzelnen Urteils auf den Gesamtzusammenhang von Urteilen hin überschreitet und alle im Erleben zugänglichen Daten als "existent" zugelassen werden. Letzteres fordert der Satz vom Vorrecht der Bejahung, von dem Cohn sich eine revolutionäre Wirkung erhofft angesichts der Tatsache, daß fast alle philosophischen Systeme und Richtungen (bis hin zu Nietzsche) "irgendwelche Teile oder Seiten der Welt als unwesentlich" ausschalten (TD, S. 160). Das "Vorrecht der Bejahung" fordert, daß alles, was sich in irgendeinem Erlebnis aufweisen läßt, der Verneinung schlechthin unzugänglich ist (TD, S. 159).

Der Satz vom "Vorrecht der Bejahung" erhält nur Sinn im Verbund mit der Maxime von der "kritischen Kraft der Negation" (TD, S. 169). Negation soll danach nicht vernichten, sondern scheiden. Zielt der Satz von der Positivität auf die Vollständigkeit des Systems, so bestimmt die Negation dessen Struktur und Ordnung. Negation soll dem Gegebenen den ihm zugehörigen Ort zuweisen. Insofern kommt der Verneinung nur eine der Bejahung nachgeordnete und untergeordnete Funktion zu. Negation hat bei Cohn keine schöpferische Potenz; sie besitzt nur "einschränkende und fortweisende Kraft" (TD, S. 227 f.).

Cohn hat in seinen Werken eine Vielzahl dialektischer Prozesse analysiert und beschrieben. Grundlegend für seine Ethik, deren Voraussetzung Cohn in der Fähigkeit des Menschen zur Selbstüberschreitung sieht, ist die Analyse und Beschreibung der Dialektik des "Ich" und dessen Akte.

Sittlich geadelt wird die Selbstüberschreitung erst durch den "guten Willen", denn Selbstüberschreitung kann auch dem Bösen dienen. "Gut" - definiert Cohn - "ist ein Wille, der dem Sollen folgt, der das Gesollte will, weil es gesollt ist" (SÜ, S. 55). Guter Wille ist mit sittlicher Einsicht verbunden, geht darin aber nicht auf, denn die sittliche Einsicht "kann unvollständig oder falsch sein, ohne daß der Wille dadurch aufhört, gut zu sein" (SÜ, S. 57). Zum guten Willen gehört jedoch notwendig das Streben nach vollkommener sittlicher Einsicht, die Aufgabe, das "Gute" möglichst in seinem ganzen Umfange zu erkennen. Zur sittlichen Einsicht gehört daher umfassende Werteinsicht und Pflichteinsicht, Erkenntnis, welchen Wert das Individuum in einer bestimmten Situation realisieren soll. Cohn besitzt einen weiten Wertbegriff, der auch Akte und Handlungen einschließt. Er trennt hierbei das "Gut" als die angestrebte wertvolle Sache von dem "Wert" als die Eigenschaft, die die Sache zum Gut macht. Werte werden nicht - wie es Nietzsches Zarathustra verkündet - vom Willen gesetzt; "Werten" ist ein sekundärer Sachverhalt, der daran gebunden ist, daß die Befolgung eines Willenszieles das Selbstgefühl erhöht (SÜ, S. 34 ff.).

Aus der Einsicht heraus, daß aus dem formalen ethischen Grundgesetz Kants, dem "kategorischen Imperativ", der Inhalt der Ethik, die einzelnen Normen und Pflichten für das Individuum in einer einmaligen Situation nicht abgeleitet werden können, sucht Cohn eine dialektische Verbindung zwischen formaler und materialer, zwischen Allgemein- und Individualethik. Dabei fließen notwendig empirische Momente in die Ethik Cohns ein. Georg Simmels paradoxer Ausdruck "individuelles Gesetz" zeigt die Dialektik dieser Ethik der Selbstüberschreitung an.

Worin stimmt Cohn mit Nietzsche überein, was trennt jenen von Nietzsche? Es sei abschließend versucht, die Grunddifferenz und die Gemeinsamkeit zwischen beiden Denkern zusammenzufassen:

Mit seiner Ethik und Orientierung an Werten, die objektiv gelten, steht Cohn bewußt in der Tradition des Platonismus. (11) Darin unterscheidet Cohn sich grundsätzlich von Nietzsche, der seine Philosophie ausdrücklich als eine "Umkehrung des Platonismus" interpretierte.

Andererseits entspricht die Intention Cohns "das Ewige im Zeitlichen" festzuhalten, einer Grundtendenz in Nietzsches mehrdeutigem Bild des "Übermenschen" und der Einsicht, die Nietzsche Zarathustra in den Mund legte: "Denn alle Lust will Ewigkeit - will tiefe, tiefe Ewigkeit..."

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Notes

(1) Abkürzungen für Arbeiten Jonas Cohns:
SD = Selbstdarstellung, in: Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. von R. Schmidt, 2. Bd., 2. Aufl. Leipzig 1923.
SÜ = Selbstüberschreitung. Grundzüge der Ethik, entworfen aus der Perspektive der Gegenwart. Aus dem Nachlaß hrsg. von Dieter-Jürgen Löwisch, Frankfurt a. Main - Bern - New York 1986.
TD = Theorie der Dialektik. Formenlehre der Philosophie, Leipzig 1923

(2) Auch Nietzsche hatte ein "Pentathlon" mit Freunden angestrebt.

(3) Weitere Mitglieder dieses Arbeitskreises waren die Philosophen Fritz Kaufmann (1891-1959) und Martin Honecker (1888-1941), der Theologe Engelbert Krebs (1881-1950), der Romanist Hans Heiss (1877-1935), der Literaturhistoriker Philipp Witkop (1880-1942). Dieser Kreis tagte nach 1933 weiter. Nach seiner Auflösung regte Gustav Wolff einen entsprechenden Arbeitskreis in Basel an (1939) und gewann für dessen Leitung den Kollegen Jonas Cohns in Basel Paul Häberlin (1878-1960), Ordinarius für Philosophie und Pädagogik. (Siehe Peter Kamm: Paul Häberlin Leben und Werk, Bnd. II Zürich 1981, S. 369)

(4) Johannes Volkelt: Selbstdarstellung, in: Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrsg. v. R. Schmidt 1. Bnd. Leipzig 1921, S. 201-228 (226).

(5) Cohn war mit Gustav Mayer mütterlicherseits verwandt; G. Mayer war der älteste Bruder von Gertrud Jaspers. G. Jaspers hatte vor ihrer Heirat mit Karl Jaspers Vorlesungen bei Jonas Cohn in Freiburg gehört.(Siehe Hans Saner, Jaspers, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 26).

(6) Als Naturwissenschaftler sah C. Nietzsche nüchterner als sein Freund. C. hatte für die Größe Nietzsches "alle Würdigung", wie er am 10.11.1916 an H. Vaihinger schrieb; er bemerkte, daß Nietzsche "bei wiederholter Lektüre gewinnt" und "wirklich Geist" hat; C. glaubte aber, daß Nietzsche "von den eigentlichen Lebensquellen unserer Zeit", der "Naturwissenschaft" und "dem socialen Emanzipationskampf" abgeschnitten sei. (Erinnerungen II).

(7) Hermann Glockner, Heidelberger Bilderbuch, Bonn 1969, S. 17

(8) Vgl. Ursula Schneider, Grundzüge einer Philosophie des Glücks bei Nietzsche. Berlin/New York 1983, Anmerkung 66, S. 99

(9) Nach einem Tagebucheintrag (13.6.1931) hielt Cohn damals eine Seminarstunde zu Nietzsches Ethik, in der er selbst eine Darstellung, Interpretation und Kritik zum "Übermenschen des Zarathustra" vortrug.

(10) Nach seinen (unveröffentlichten) "Erinnerungen" hat Cohn spätestens seit 1894 Nietzsche im Original gelesen und sich mit dessen Ethik auseinandergesetzt.

(11) Dem entspricht, daß C. im Exil über seinem Schreibtisch ein Bildnis Platons (und Kants) anbrachte.

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