Seele und Paideia: Zum philosophischen Stellenwert einer dialektischen Beziehung Michael Polemis
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In der Erinnerung, die in der Sprache lebt, ist YUCH Hauch, kühler Atem. Sie ist als Hauch des Lebens mit MENOS verbunden, mit jener Kraft, die dem Leben eigen ist. Es ist dies das selbe MENOS, das die Wurzel von man (Mann oder Mensch) bildet und ihm liegt die gleiche Manie zugrunde, jener furor, der Eigenschaft des Menschen ist. Er legt in der Tradition des griechischen Sprachgebrauchs das Verständnis des Menschen als jenes, alles auf den Kopf stellenden Wesens nahe. ANQRWPOS wäre demnach die Bezeichnung für Mensch, die sich aus ANATREPW ableitet, d.h. alles auf den Kopf stellen. Es ist dieser furor, dessen Bedeutungsgehalt auch in dem anderen indoeuropäischen Wort für Psyche enthalten ist. In der Seele, soul, die mit See (sea) verwandt ist, die mit dem Wasser zusammenhängt, aber doch deren Ursprung der König der Winde AIOLOS ist, tritt wieder der furor auf, die Bewegung und die Schnelligkeit des Windes, die bei den Alten mit dem schnellen Greifvogel der Erkenntnis IERAX, mit dem Heiligen IERON und dem anderen großen Vogel, dem Adler AETOS, der ein ewiges Symbol ist, äonenhaft AEI das Wissen inkorporiert, aber auch in der Nähe des furchtbaren Todesgottes AIDHS angesiedelt ist und für das ewige Wissen des Todes steht. Dieses Wissen des Todes ist es letztlich, worum es auch in der griechischen Philosophie geht, wenn es sich um die Bestimmung der Seele handelt. Die Philosophie ist hier ein Konzept gegen den Tod und man kann cum grano salis sagen, daß auch paideia die Antwort der griechischen Kultur gegen den Tod ist. In ihrer äußersten und konsequentesten Zuspitzung, in der platonisch-aristotelischen Philosophie begegnet uns dieser Sachverhalt am klarsten und bildet auch für die Nachwelt die Basis für die nachfolgenden Strategien im Kampf gegen den Tod. Im Rahmen dieser Philosophie ist der Kampf gegen den Tod vornehmlich ein Kampf für die Ewigkeit und der subtile Unterschied zwischen den beiden Arten von Kampf liegt vor allem dem platonischen Werk, als innere, im philosophischen Diskurs angelegte dialektische Auseinandersetzung zugrunde, deren Nuancen in der platonischen Rede unterschwellig, sozusagen im Flüsterton zur Darstellung gelangen. Das hat auch damit zu tun, daß im platonischen Werk kein geschlossenes und einheitliches Konzept vom Kosmos und der Seele enthalten ist, sondern mehrere in sich kohärente Interpretationsmuster, die einander berühren und die Reflexion unentwegt in Bewegung setzen und somit äußerst anregend sind. Darin liegt der Charme Platons, in dem äußerst variantenreichen und hintergründigen Selbstgespräch des philosophischen Lehrers, das immer entwicklungsfähig bleibt und gleichzeitig eine Begegnung und ein Dialog mit dem Anderen ist. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Dialog "Phaidon," weil einzigartig in ihm die zwei Hauptmotive des Kampfes gegen den Tod, die sonst im platonischen corpus in verschiedenen Werken unabhängig von einander angelegt sind, in systematische Beziehung zueinander gesetzt werden, als methodischer und inhaltlicher Abschluß der Ausführungen über das Wesen der Seele. Diese zwei Hauptmotive bilden jedoch für sich den Kern einer Argumentationslinie im Kampf gegen den Tod, die in der philosophischen Tradition eine bedeutende Rolle gespielt hat und von Platon einerseits von der Vorstellungswelt der früheren indoeuropäischen Völker übernommen und weiterentwickelt worden ist, andererseits von ihm als Ersten gedeacht und konzipiert worden ist, um in weiterer Folge in der Geistesgeschichte von den Epigonen übernommen zu werden. Das erste dieser Motive ist die These von der Entstehung von etwas aus seinem Gegenteil. Dieser These liegt das platonische Konzept von Dialektik als Lehre vom Widerspruch zugrunde. Wie das Kleine aus dem Großen und das Große aus dem Kleinen entsteht, (1) so entsteht auch das Leben aus dem Tod und der Tod aus dem Leben in einem unaufhörlichen kreisförmigen Prozeß der ewigen Wiederkehr, in dem Schwinden aus dem Wachsen und Wachsen aus dem Schwinden ist. Soweit dieses Motiv in dieser allgemeinen Formulierung thematisiert wird, kann man daraus den Begriff der Seele als allgemeines Lebensprinzip ableiten, als Weltseele, die dem Kosmos innewohnt, ihm immanent ist. Dieser objektiv idealistisch gefaßte Seelenbegriff ist ein immerwiederkehrender Topos platonischer Philosophie, der als die eine Fassung von der Seele, konsequent im ganzen Werk bis zu den späten "Nomoi" enthalten ist. Soweit er auf dem dialektischen Verständnis der Einheit des Wiederspruchs beruht, mündet er notwendigerweise in das Konzept der sich bewegenden Bewegung, die den ganzen Kosmos sowohl in "Phaidon" als auch in den "Nomoi" als himmlische Drehscheibe zusammenhält. (2) Im "Phaidon" kommt es allerdings zu weiteren Erläuterungen, die den Begriff der objektiv idealistisch gefaßten Seele wesentlich modifizieren. Gerade hier, unmittelbar nach den Ausführungen über das Wesen der Seele, die auf dem Prinzip der Einheit des Widerspruchs beruhen, folgt Platon einer anderen Argumentationslinie, die eine Vermittlung darstellt zwischen dem Prinzip der Einheit des Widerspruchs und dem zweiten großen Hauptmotiv platonischer Philosophie: Dem Prinzip der Transzendentalität des Begriffs, das der Ideenlehre innewohnt. Unter der Voraussetzung, daß die im Rahmen der Wiedererinnerungslehre als Bestandteil der Ideenlehre angenommene Lehre von der Präexistenz der Seele wahr ist, und allesLebendige nach dem Prinzip der Entstehung von etwas aus seinem Gegenteil, aus dem Toten, entstehen muß, muß auch die Seele nach dem Tod weiterleben, damitsie wieder ins Leben zurückgehen kann. (3) Hier greift in die Argumentationslinie so etwas wie der Begriff einer Individualseele ein, der vorhin, im Rahmen der Ausführungen auf der Basis der Lehre vom Widerspruch nur ansatzweise in Erscheinung trat (4) (das sind vor allem jene Ausführungen, wonach die Seelen der Lebendigen aus den Seelen der Toten im Hades kommen) und im Gesamtkontext etwas hölzern wirkte. Es ist in diesem Zusammenhang symptomatisch, daß im Kampf gegen den Tod das Konzept der Unsterblichkeit der Individualseele auchan anderen Stellen eine Unschärfe enthält. So werden in den "Nomoi" Leib und Seele als nicht ewig, jedoch als unvergänglich, definiert: "denn nimmer könnte eineEntstehung lebendiger Wesen stattfinden, wenn eins von beiden zugrundeginge." (5) Hier ist ein Verständnis von Leib und Seele als ontologisches Prinzip schlechthin und als Allgemeines naheliegend, soweit es aber auch, wie die Idee im Rahmen der bekannten aristotelischen Kritik in der "Metaphysik" (6) als konkret Allgemeines und als Einzelnes verstanden werden kann, hat es damit eine besondere Bewandtnis. (Daß die aristotelische Kritik letztlich von falschen Prämissen ausgeht und somit selbst die Geschichte eines Mißverständnisses darstellt, dessen letzte Konsequenz eine empirische Deutung der Idee als ATOPON ist, in deren Folge das Konzept einer metaphysischen Verdoppelung der Welt entstünde, hat hier nur indirekt mit der Sache zu tun, ist aber für sich eine der geheimnisvollsten hermeneutischen Passagen der Aristoteles Interpretation). Denn wenn man in diesem Kontext die Seele als Einzelnes begreift, d.h. als einzelne Individualseele, bleibt sie in letzter Konsequenz kaum faßbar. Hier zeichnet sich jene Zäsur ab, die in der Tradition mit der Umwandlung des platonischen Seelebegriffs zum christlichen Seelebegriff einhergeht. Gerade an dieser Stelle, wo der platonische Begriff der Seele schwankend geblieben ist zwischen einer Konzeption von Individualseele und einer Konzeption von Seele als allgemeinen ontologischen Prinzips, das dem Kosmos zugrundeliegt-eine Ambivalenz, die übrigens auch dem platonischen Gottesbegriff innewohnt, jenem DHMIOURGOS, der gemeindestiftend ist und als Weltvernunft sowohl subjektiv idealistisch als auch objektiv idealistisch gefaßt werden kann (7) -entsteht der christliche Begriff von der Seele, in dem sich die bisherigen Voraussetzungen der platonischen Tradition von der Individualseele radikalisiern. Das geschieht vornehmlich dadurch, daß die letzten Spuren des Platonismus im Christentum durch die Bekämpfung des Origenismus ausgetilgt werden. Es sind die griechischen Kirchenväter, die diese Arbeit leisteten, sie gipfelte in den Erörterungen der 5. ökumenischen Synode von Konstantinopel zur Zeit von Kaiser Justinian.Durch die dezitierte Verurteilung der Lehre von der Präexistenz der Seele und des damit verbundenen Origenismus wurden die letzten Überreste der platonischen Philosophie aus der theologischen Dogmatik ausgeschaltet und der Begriff der Seele erhielt seinen unergründlichen Charakter, den er nur prima vista durch die christliche Lehre von der Schöpfung des Menschen verlor. im Grunde wurde hier-in der Neuzeit hat das uns bekanntlich Kierkegaard sehr schön durch seine Analyse des Sündebegriffs gezeigt-der Begriff der Individualseele jeglicher Stütze beraubt, hinter ihm als Begründung individueller Existenz steht der tiefe Abgrund des Nichts. Alle Bemühungen der theologischen Dogmatik die Entstehung der Individualseele durch Creatianismus, Traducianismus, Generatianismus und ähnliche Denkmodelle in einer Weise zu schildern, die dem Bedürfnis nach Überwindung der transzendentalen Differenz entspricht, sind somit im vorhinein zum Scheitern verurteilt. Indem die origenistische Präexistenzlehre von den christlichen Theologen eindeutig als Häresie verurteilt wurde (das geschah mit der skurril erscheinenden aber treffsicheren Begründung, die gegen alle Wiedergeburtslehren zur Anwendung kommen kann, daß man sich in diesem Fall an den früheren Status der Seele erinnern müßte!) wurde auch der Stellenwert von paideia anders begriffen und interpretiert. Zwar erlosch hier die platonische Tradition von paideia als Weg, der zur erlernbaren Tugend führt nicht, jedoch erhielt sie eine andere Bedeutung. Das geschah vornehmlich dadurch, daß die Ambivalenz der platonischen Konzeption vom eros, ihr philosophischer Sinn, untergraben wurde. Damit ist jene Ambivalenz gemeint, die dem eros als Mittler zugrundeliegt. (8) Für die Geschichte der europäischen Philosophie ist diese Schilderung des doppelseitigen Charakters des eros als Mittlers zwischen Mangel an Erkenntnis und wahrer, philosophischer Erkenntnis, seine in diesem Kontext erfolgende Definition als Dämons, nichts anderes als eine verschleierte Metapher für die Negativität, die im Menschen innewohnt, die jene geheimnisvolle Macht des Denkens selbst ist, die aus dem Denken hervorsprudelt und zur Erkenntnis der Wirklichkeit aus der dialektischen Organisation der Wirklichkeit selbst entspringt. Sie ist der plötzliche Funken der Erkenntnis, von Platon an einer anderen Stelle im 7. Brief beschrieben, (9) in der Philosophie der Neuzeit von Hegel ehrfurchtsvoll, als ."...die ungeheuere Macht des Negativen; es ist die Energie des Denkens, des reinen Ichs" (10) apostrophiert. Dieses Prinzip der Negativität ist also die Wahrheit des eros, auf dessen Basis die große europäische paideia Tradition beruht. Indem Platon sich auf den eros beruft, vollzieht er durch ihn als negativer Macht, die zur Erkenntnis drängt, die Versöhnung zwischen unergründlicher Transzendentalität des Begriffs, dessen ontologische und kosmologische Wirklichkeit die Idee selbst ist und Wissen von der Unaussprechbarkeit und Undenkbarkeit dieser Transzendentalität für den einzelnen Menschen, für das denkende Individuum, dem die Aufmerksamkeit des Philosophen gilt. Dieses Individuum, das nur als philosophisches, einziges, unteilbares Subjekt, durch sich selbst im Wege der Philosophie in Tugend und Wahrheit sich selbst, aus sich selbst schöpfend begründen kann, vermag nach platonischer Diktion nur durch den eros mit seiner eigentlichen göttlichen Natur eins werden, sich selbst und jenem philosophischen Gott gleich, von dem Platon nur in Gleichnissen oder in bewußter terminologischer Unschärfe spricht. Eros ist also bei Platon mit der Individualseele vermittelt, einerseits steht er stellvertretend für eine Macht da, die außerhalb des Menschen ist, geheimnisvoll aus der Natur des Kosmos abgeleitet wird, andererseits ist er eine genuine Angelegenheit der individuellen Seele. Für Platon kann der Mensch nur durch die Kraft des eros an die Wahrheit herangezogen werden, eine Angelegenheit, die letztlich nur den Philosophen vorbehalten bleibt. Es ist begriffsgeschichtlich konsequent, daß nach Platon Aristoteles durch die Unterscheidung zwischen dianoetischen und ethischen Tugenden, deren letzteren Erwerb eine Angelegenheit der richtigen Gewöhnung sei, (11) indirekt dadurch den elitären Charakter des griechischen paideia Begriffs, dessen Ideal des philosophischen und des kontemplativen Lebens (IOS FILOSOFIKOS und BIOS QEWRHTIKOS), nur von wenig Menschen angestrebt werden kann, die platonische Unterscheidung zwischen SOFIA und SWFROSUNH übernimmt, indem er gleichzeitig die Skepsis für einen Begriff von Individualseele durch Gewöhnung, die zum Habitus als zweiter Natur führt, soweit Gewöhnung durch Praxis entsteht, einerseits zum Inhalt einer gesellschaftlich vermittelten Ontologie macht und andererseits instrumentalisiert und verstärkt. Soweit nun durch die Bekämpfung des Origenismus die Lehre von der Präexistenz der Seele im Christentum kategorisch als Gedankengut der heidnischen Welt abgelehnt und zurückgedrängt wurde, erfuhr dadurch das Konzept der Individualseele eine Radikalisierung, deren Dimensionen, ein für die Welt der vorchristlichen Antike undenkbares Ausmaß erreichten. Das Paradoxe dabei ist, daß es auf der Basis einer Theologie geschah, die die Entstehung der Individualseele des Menschen durch einmalige göttliche "Einhauchung" metaphysisch abstützte (auch wenn die zeitliche Reihenfolge der "Einhauchung" in den verschiedenen Denkmodellen anders angesetzt ist, bleibt die Tatsache der Entstehung der Individualseele durch göttliche Wirksamkeit für die Theologie unbedingtes Lehrgut). Trotz dieser metaphysischen Stütze, oder gerade deswegen, wurden die Bedingungen der Selbstbestimmung des Menschen im Christentum von der spannungsgeladenen Gewißheit getragen, Träger einer einmaligen Individualseele zu sein, genauso radikal, wenn nicht in gewissser Hinsicht radikaler, als die kompromißlos nüchterne dialektisch-dialogische Suche der sokratischen Mäeutik nach Wurzeln und Sinn der eigenen Ich-Identität. Ist Sokrates jene Paradegestalt aus dem Philosophenpantheon der Geschichte, deren Wirksamkeit in der Welt mit der bedingungslosen Kehrtwende zum eigenen Ich, zur Schau nach innen, in Verbindung gebracht wird, wenn der Boden unter den Füßen schwankt und nichts in der Welt dem Menschen Gewißheit über die Wahrheit des Denkens über sich selbst geben kann, als der Mensch selbst und die daraus resultierende heitere Berechtigung für das Gute zu sein, die auch angesichts der Unerbittlichkeit des Todes, unerschüterlich bleibt; so entspringt für das Christentum das Wissen von der eigenen Seele aus dem Bewußtsein der Gnade und zitternd steht der Mensch vor dem Abgrund der Sünde, die schlimmer als der Tod ist, nämlich die Sünde gegen den Geist ("Darum sage ich euch: Jede Sünde und Lästerung wird dem Menschen vergeben werden, aber die Lästerung gegen den Geist wird nicht vergeben"), (12) die ein Ablehnen der Gnade ist, und die als Geschenk empfangene Seele abzuschlagen, bedeutet. So ist dem Christentum die Angst vor der Hölle größer als die Angst vor dem Tod. In diesem Bewußtsein wird auch der Stellenwert und die Bedeutung des eros transformiert. Ist für Platon Erkenntnis des Wahren und Gerechtigkeit das höchste Ideal, so ist es für das Christentum die Liebe. Ist für Sokrates der größte Frevel Ungerechtigkeit zu begehen und sind Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit durch die Gesetze der polis normiert, so steht das Christentum der Evangelien und der Bergpredigt in kritischer Distanz und in einer ambivalenten Beziehung zur Staatsmacht als höchster sittlicher Autorität und die paulinischen Briefe sind vom Bemühen gekennzeichnet Loyalität gegenüber dem Staat und die über die Staatsautorität hinausgehende Autorität des Christentums als Maßstab menschlichen Handelns miteinander zu versöhnen. Noch im frühchristlichen Diognet Brief wird der Christ in seiner elementaren Einsamkeit als Beisasse (PAROIKOS) dieser Welt definiert, dessen Heimatlosigkeit durch Transzendenz überwunden wird und seine Beziehung zu weltlicher Macht und Gesetz ähnlich wie bei Paulus der Dialektik zwischen Gehorsam und innerer Distanzierung und Überwindung unterliegt. (13) Indem durch das Chistentum die Bedeutung des eros Begriffs einem fundamentalen Wandel unterzogen wurde und zur agape, Liebe für Gott, Mensch und Kosmos, umgeformt wurde, erhielt auch das Ideal von paideia die neue Wende der Verwandlung der Erkenntnis zur Liebe; eros ist hier nicht mehr Mittel der Erkenntnis, sondern zur christlichen agape verwandelt, selbst höchster Zweg. Das amare amabam des Augustinus wird im christlich beseelten Abendland zum inneren Motor des Strebens nach paideia. Somit ist auch Erkenntnis nicht mehr der Erkenntnis wegen als höchstes Gut wie bei den Griechen anzustreben, (14) sondern sie wird der Liebe untergeordnet, die selbst höchste Erkenntnis ist. Dieses Ideal des Christentums setzt auch voraus, daß paideia keine Angelegenheit für Philosophen allein mehr ist, sondern alle Menschen anspricht und daß in gewisser Hinsicht die Nicht-Philosophen, die der Liebe bedingungslos offen sind und ihr ohne intellektuelles Zögern zugetan sind, der christlichen Wahrheit näher stehen. Hiebei behält im Christentum das transformierte platonische eros Ideal noch Aktualität und Wirksamkeit. das äußert sich in den Formen von Gottesliebe als ekstatischer Verzückung und in der antimanichäischen Erotisierung des Kosmos durch den Neoplatonismus der Kirchenväter, die eigentlich im strengen Sinn entgegen der üblichen Auffassung keine Neoplatoniker im eminent philosophischen Sinn sind, sondern eine gänzlich neue Sprache sprechen. Auch in der Mystik des Mittelalters, etwa bei den deutschen Mystikerinnen Mechthield (1207-1282) und Gertrud (1255-1302) kommt sublimierte Erotik in der ekstatischen Vision der Vereinigung mit Christus im Himmel, eindeutig zum Zug. (15) Unabhängig von diesen historischen Implikationen des eros Begriffs im Christentum, setzt die Verwandlung von Erkenntnis zur agape, daß die radikalisiert einsame Individualseele die Liebe als Resultat göttlicher Gnade begreift, voraus. Nicht durch das Gute, wie das philosophische Modell Platons, kann die wissende Seele des Philosophen auch nach dem Tod Erlösung, oder in dieser Welt nach aristotelischem Sprachgebrauch Eudämonie erlangen, sondern nur durch Gnade, die selbst unergründliche Liebe ist. (Die theologischen Implikationen der Lehre von der Gnade vornehmlich in der Distinktion zwischen römisch-katholischer und orthodoxer Theologie, aber auch im Rahmen der protestantischen Theologie, gehen weit über den Rahmen dieser Ausführungen hinaus). Eines muß hier jedoch festgehalten werden. Trotz der essentiellen Differenz zwischen klassischem und christlichem paideia Prinzip, deren Basis die Wandlung des eros Begriffs und die endgültige Bekämpfung der Lehre von der Präexistenz der Seele im Christentum ist, besteht zwischen beiden die grundlegende Gemeinsamkeit in der Auffassung, daß der Zweck der paideia nicht das utilitaristische Interesse sein kann. Paideia dient also, und das ist unabläßiger Bestandteil der abendländischen Denk-und Bildungstradition der Formung der Seele. Ist die Seele für die vorchristliche Zeit, die durch sich selbst im Wege der Philosophie zur Wahrheit in Freiheit kommende Führungsinstanz des Menschen ( wobei man hier im vereinfachten Sinn vom Dualismus zwischen Körper und Seele sprechen kann und die ebenfalls in der Tradition verankerte Dreiteilung von Körper-Seele-Geist, in deren Rahmen die Seele eine noch mit dem Attribut des Körperlichen behaftete Zwischeninstanz wäre im Unterschied zum pneuma, dem reinen Geist, eine in der Tradition des Origenes liegende Dreiteilung, die als hermeneutisches Denkmodell der allegorischen Bibelinterpretation zugrundeliegt und als anthropologisches Konzept auch von der Theologie im Unterschied zum Dualismus verwendet wird, ohne daß hier allerdings allgemeine bereinstimmung wäre, der textökonomischen Vereinfachung unserer Ausführungen wegen, nicht umbedingt Berücksichtigung finden muß), so fungiert sie in christlicher Zeit als höchstes Gut, dessen Einhaltung alle unsere Hoffnung und Anstrengung als Begründung unserer Existenz gilt und dessen Verlust, mit dem ewigen Verlust des ganzen Menschen einhergeht; wobei das in letzter Konsequenz trotz unserer Mühe, nicht von uns, sondern von Gott allein abhängt. Auch der tugendhafteste Mensch besitzt also nicht die Fahrkarte fürs Paradies und im Gegenteil ist nach den evangelischen Bericht der gekreuzigte Räuber, der Jesus um Gnade bittet, der erste Mensch in der Zeitökonomie nach der Offenbarung, dem das dezitiert versprochen wird. (16) (Diese Stelle enthält schon unter anderem eine besondere Dramatik, weil dieses Versprechen schon unmittelbar für heute gilt und somit für den nahtlosen Übergang in den Status der Ewigkeit garantiert). Was also schon für die Griechen gilt, wird bei den Christen radikalisiert: Der Mensch als Träger einer einzelnen, unteilbaren Seele gilt für sich nicht im Angesicht dessen, was sein momentaner Status in der Welt ist, sondern durchaus im Sinne der unterstellten ontologischen Ordnung. Er gilt für das, was er angesichts der Ewigkeit ist, d.h. entweder im Sinne dessen, was er in Ewigkeit sein wird, oder im objektiv idealistischen Sinn als ewiges Wesen, weil die Individualseele sterblich, die Seele aber im Allgemeinen ewig und unsterblich ist. Mit dieser letzten Fassung haben übrigens die Philosophen auch im Zeitalter der Hochreligionen immer operiert. Neben und trotz des Konzeptes der materialistisch gefaßten Seele der Stoa hat die Tradition des Aristotelismus die objektiv unsterbliche Seele über Mittelalter und arabische Aufklärung, über Avicena und Spinoza bis Leibniz und Hegel gerettet. Alles, was für den Menschen im Rahmen dieser Tradition gut ist, ist das, was für die Seele gut ist, d.h., ewigkeitsorientiert ist und nicht dem unmittelbaren Nutzen folgend. Der Wert und die Würde des Menschen kann also nur sub specie aetenitatis bestimmt und gedacht werden. Unter dieser Bedingung erhält übrigens in der platonischen Philosophie der methodische Aspekt der Ironie eine besondere Bedeutung.Es ist diese sokratische Ironie, die indem sie sich auf die Scheinposition des Nicht-Wissenden oder auf die Position des scheinbar Richtigen stellt, die Wahrheit im Zuge des Disputes in Erscheinung treten läßt und die vorhin eingenommene Position desavouiert, ja, oft sogar lächerlich macht. Vergnüglich führt uns das Sokrates in der Entlarvung des Wesens der sophistischen Kunst am Beispiel der Angelfischerei in "Sophistes" vor. (17) Der tiefere Sinn ist aber hier, daß Platon vom Aspekt der species aeternitatis ausgehend, durch die Ironie die Negativität als dialektischen Motor wirksam werden läßt, indem er die Bewegung des Denkens durch die Differenz, den Unterschied zwischen Wahrheit und Unwahrheit, durch den aus der Subtraktion der Unwahrheit aus der Wahrheit entstehenden Mangel bewußt werden läßt durch die Lücke, die Wirklichkeit der richtigen Bestimmung in Erscheinung treten läßt. Jahrhunderte vor der Hegelschen Logik ist es die Vorwegnahme ihrer Prinzipien im Dialog; das kann aber nur im Wissen von der Ewigkeit geschehen. Auch in den Evangelien findet man diese Ironie vor, dort, wo man Christus durch "Fangfragen" einzufangen versucht. Manchmal verwandelt sich in diesem Kontext die Verteidigung von Christus zum blanken, seine Gegener entlarvenden Hohn. Es ist kein Zufall, daß er so die Frage nach seiner "Vollmacht" beantwortet. (18) Ironie erscheint hier in ihrer klassischen Doppelfunktion als Entlarvung der Unwahrheit und als Waffe der Schwachen gegen die Mächtigen. Somit verdichtet sich auch der religionsphilosophische Gehalt des göttlichen Dramas auf Erden. Gott selbst, der inkarnierte logos bedient sich der Ironie, um den Funktionären der Macht bei der Frage nach seinen Kompetenzen zu widerstehen. In diesem Sinn kann man zugespitzt sagen, daß alle Evangelien ironische Fundamentaltexte sind, nämlich an der Grenzedes Menschlichen angesiedelt. Diese Ironie als Macht des Negativen begegnet uns wieder zu Beginn der Neuzeit verstärkt in der großen literarischen Tradition bei Dante, Shakespeare und Cervants dort, wo das Ringen der menschlichen Seele eingebettet in der Subjektivität der Neuzeit reflexiv geworden ist. Es ist hier die Seele, die als Hauptinstanz und Hauptmotiv auch dort, wo die große Literatur antiken Mustern folgt, als Individualdämon nach Erlösung und Selbstfindung strebt. Es ist kein geringerer als Dante, wo die Verschmelzung des alten platonischen paideia Ideals mit dem christlich transformierten eros Begriff als agape in paulinischer Tradition und unter zusätzlicher Anwendung von dichterischen Metaphern für die Trinitätsmetaphysik, als Mittel höchster Selbsterkenntnis dargestellt wird und als letztlich einziger Weg, als Identität von Mittel und Zweck gedacht wird. Veder voleva come si convenne Wie bei Paulus und den Kirchenvätern ist hier die Liebe das größte von Gnade abgeleitet Gut, das die menschliche Seele zu sich selbst und zur paradiesischen Schau des Göttlichen führt und somit letztlich nicht von uns selbst abhängig ist. Dante ist also typisch für das neuzeitliche paideia Ideal im Christentum als Fortsetzung von Motiven des antiken Platonismus durch agape transformiert und durch die sich abzeichnende Subjektivitätswende der Neuzeit gefärbt und einer neuen Synthese zugeführt. Diese Synthese, die in der Frührenaissance Dante als das große neue Konzept der Neuzeit vorschwebt, wurde jedoch durch den Fortschritt des Gedankens von Freiheit und Produktivität, deren Basis die Entfesselung der Mächte der realen Produktivität in der Geschichte war, in ihrer ursprünglichen Einheit gebrochen. Im Rahmen einer neuen manichäischen Wende wurde in der Neuzeit eine radikale Enterotisierung des christlich-platonischen Weltbildes vollzogen und die in ihm in Folge von Augustinus noch enthaltene Einheit von Heilsgeschichte und Weltgeschichte gesprengt. Ist die Philosophie immer um die Wiederherstellung der Einheit bemüht, zeichnet sich jedoch das Konzept der Neuzeit durch Dualismus aus. Von Descartes bis Kant geht es in der Erkenntnistheorie gerade um die Überwindung des Dualismus und Hegel überwindet ihn, wie er letztlich die Erkenntnistheorie als solche überwindet, indem er das Konzept der Subjekt werdenden Substanz in der Geschichte, als Ort des in ihr nur möglichen Bösen entwirft. Von Descartes bis Kant und von Rousseau über Hegel bis Nietzsche und der Moderne bleibt das Konzept der Neuzeit ein diabolisches, weil es die durch Vernunft hervorgerufene Spaltung des Kosmos wieder mit den Mitteln der Vernunft zu überwinden versucht und dabei die conditio humana, die Unzulänglichkeit der menschlichen Eigenmittel und somit die Tragödie des Menschen vergißt. Verschärft durch Technik und Geld und durch den Fetischismus der Idee der Produktivität als Universalbefreiung durch sich selbst, gefesselt durch sie, wie Prometheus, nicht durch die Rache der Götter, sondern durch eigens durch sich selbst hergestellte Fesseln, steht der Mensch am Ende unseres Jahrhunderts und zu Beginn eines neuen, wie immer, als das mit dem Tod behaftete, mit Ungerechtigkeit, Armut und Krieg konfrontierte Wesen. Diabolisch bleibt aber dieses Konzept des Menschen auch im Sinne des Wortes, weil es wie die Figur des Diabolus es so in sich hat, die ursprüngliche Einheit von Urbild und Abbild, Menschen und der Idee des Menschen, oder des Göttlichen in ihm als seiner Voraussetzung, verleumdet. |
Anmerkungen (1) Platon, Phaidon, 70d-71e (2) Platon, Nomoi X, 897a-898d (3) Platon, Phaidon, 72b-72e (4) Platon, Phaidon, 71e-72a (5) Platon, Nomoi X, 904a 5-904b 1 (6) Aristoteles, Metaphysik I, 9 und XIII, 4 und 5 (7) Platon, Nomoi XII, 966e (8) Platon, Symposion 201d-204c (9) Platon, 7. Brief, 341c-d (10) G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1952, S.29 (11) Aristoteles, Nikomachische Ethik II, 1-2 (12) Mt. 12, 31 (13) Brief an Diognet 5, 5-10 (14) Aristoteles, Metaphysik I, 2 982b (15) vgl. Bernhard Lang u.Colleen McDannell, Der Himmel, F/M. 1990, S.135-151 (16) Lk. 23, 39-43 (17) Platon, Sophistes, 219d-223b (18) Lk. 20, 1-8 (19) Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, Das Paradies XXXIII, 137-145 Literatur Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt von Franz Dirlmeier, ______, Akademie Verlag, Berlin 1979 ______, Metaphysik, Felix Meiner Verlag, Bd 1 u. Bd 2, Hamburg 1978 u. 1980 Die Bibel, Herder Verlag, Freiburg-Basel-Wien, 1980 Brief an Diognet, Hrsg. v. Klaus Wengst, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1984 Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, Das Paradies, Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1974-1988 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1952 B.Lang-C.McDannell, Der Himmel, Insel Verlag, F/M. 1996 Platon, Briefe, Ernst Heimeran Verlag, München 1967 ______, Das Gastmahl, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1974 ______, Gesetze, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1977 ______, Phaidon, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1974 ______, Der Sophist, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1970 |