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Ontology

Zur systemtheoretischen Verallgemeinerung
des Kraftbegriffes

Wolfgang Deppert
Philosophisches Seminar der Universität Kiel

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ABSTRACT: In order to generalize the concept of force due to its application within theoretical descriptions of biological systems, the Newtonian notion of force is used. So-called ‘wholenesslike’ (ganzheitliche) systems of notions allow us to define ‘wholenesslike’ states. There are two possible changes of such states: the changes of eigenstates and the change of the structure of systems. Therefore, two types of forces are discussed: systemeigenforces and systemcombinationforces.

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1. Systemtheoretische Einführung

Das naturwissenschaftliche Programm, die Phänomene aller Lebensbereiche auf physikalische Gesetzmäßigkeiten zurückführen zu wollen (genannt: der physikalistische Reduktionismus) stößt aufgrund der unüberwindlichen Komplexizitätsprobleme an seine Durchführungsgrenzen. (1) Darum wurden komplexitätsreduzierende Verallgemeinerungen der Grundgrößen Zeit und Länge aufgrund der genaueren Beachtung der Metrisierungsvorschriften vorgenommen. Dadurch entstanden die Begriffe Systemzeit, Systemraum und Systemgesetz, wobei sich die physikalische Zeit t, die physikalische Länge x und die kosmischen Gesetze als Spezialfälle der entsprechenden Systemgrößen bzw. Systemgesetze erwiesen. (2) Es bietet sich an, das weitere Vorgehen zur Erforschung von komplexen Systemen, wie es etwa biologische Organismen oder Ökosysteme sind, durch Verallgemeinerung der grundlegenden physikalischen Begriffe fruchtbar zu gestalten. Dazu wird hier der Versuch gemacht, den Kraftbegriff so zu verallgemeinern, daß er auf ganzheitliche Systeme anwendbar wird. (3)

2. Zwei Kraftbegriffe

In der Alltagssprache verwenden wir das Wort "Kraft" in vielfältiger Weise, etwa wenn wir von einem kraftvollen Menschen sprechen, von einem Kraftwagen, einem Kraftakt, von Muskelkraft oder seelischer Kraft, von kraftvollem Musizieren oder einem kräftigen Schluck Rotwein, von einer kräftigen Farbe, von Gestaltungs-, Überzeugungs- und Willenskraft u.s.w.

Bei dieser Vielfalt von Kontexten, in denen wir das Wort Kraft gebrauchen, entsteht der Eindruck, als ob es ein hoffnungsloses Unterfangen ist, den Kraftbegriff genauer zu fassen. Allenfalls — so möchte man meinen — kann man hier nur im Sinne Wittgensteins von einer Familienähnlichkeit sprechen. Dennoch lassen sich gewisse Bedeutungsklassen bilden, so z.B. 1. der Kraftbegriff als Leistungsfähigkeit, 2. der Kraftbegriff als Ausdauer, 3. der Kraftbegriff als Intensität, 4. der Kraftbegriff als Grund für eine Bewegung, 5. der Kraftbegriff als Beharrlichkeit oder Widerstandsfähigkeit, 6. der Kraftbegriff als das Vermögen, etwas Gewolltes durchzusetzen.

Noch allgemeiner läßt sich der Kraftbegriff umreißen als der Ausdruck von etwas Wirkendem oder etwas, das die Möglichkeit des Wirkens besitzt. (4)

Nun läßt sich etwas Wirkendes an seiner Wirkung erkennen, und dies kann ganz allgemein eine bemerkbare Änderung sein, in bezug auf etwas, das gleich bleibt. Sieht man etwa eine Sternschnuppe am Nachthimmel, so wundern wir uns über diese sich bewegende Leuchterscheinung vor dem Hintergrund des scheinbar ruhenden Sternenhimmels.Aber ebenso würden wir uns über etwas wundern, was inmitten einer sich verändernden Umgebung seine Position unverändert beibehält, z. B. wenn in einem wild tobenden Gebirgsfluß sich ein Strudel an einer bestimmten Stelle erhält. Durch diese Überlegung stoßen wir auf zwei Kraftbegriffe mit einer entgegengesetzten Intention:

1. Kraft als Ursache für etwas Gleichbleibendes, sie mag als erhaltende Kraft bezeichnet werden.

2. Kraft als Ursache von Veränderungen, dieser Typ von Kraft sei verändernde Kraft genannt.

Diese beiden Kraftarten bedingen einander, denn eine Veränderung kann nur beschrieben werden, wenn etwas unverändert bleibt, und die Feststellung des Gleichbleibens ist nur bemerkbar, wenn wenigstens der Beobachter sich in seiner Zeitvorstellung geändert hat; denn ohne eine zeitliche Änderung ist es sinnlos, davon zu sprechen, daß etwas unverändert geblieben ist.

3. Gegenseitige Abhängigkeiten

Dieses Auftreten von gegenseitigen Abhängigkeiten bei Begriffsbildungen halte ich für unvermeidbar. Ich möchte es darum als ein methodisches Prinzip ansehen, stets nach den Begriffsbildungen Ausschau zu halten, die in einer solchen gegenseitigen Abhängigkeit zueinander stehen. Dieses Vorgehen kann dadurch systematisiert werden, indem man die zu unterscheidenden Fälle von vornherein mit Hilfe von ganzheitlichen Begriffssystemen charakterisiert, die durch die gegenseitige semantische Abhängigkeit ihrer Begriffe definiert sind. (5) Den einfachsten Fall stellen die Begriffspaare dar. Es können aber auch Begriffstripel, Begriffsquadrupel oder höher-elementige ganzheitliche Begriffssysteme vorkommen. Das Merkmal der Ganzheitlichkeit besitzen diese Begriffssysteme, weil sich ihre begrifflichen Zusammenhänge in Form von zirkulären Definitionen darstellen lassen.

4. Wesens- und Beziehungsbestimmungen

In der weiteren Betrachtung der Kraftbegriffe möchte ich die Begriffspaare "Inhalt - Form" oder "Substanz - Relation" verwenden, indem ich behaupte, daß die soeben genannten Kräfte der erhaltenden oder der verändernden Art inhaltlich oder formal bzw. substantiell oder relational beschrieben werden können. Die inhaltliche oder substantielle Beschreibung entspricht dem, was man auch eine Wesensdefinition nennt, durch die das Wesen eines Begriffes dargestellt wird. Die formale oder relationale Beschreibung hingegen gibt nicht Antwort auf die Was - Frage, sondern auf die Frage, wie sich etwas verhält.

Im Allgemeinen gilt es als Errungenschaft der Naturwissenschaft, daß sie nicht mehr nach dem Was, nach dem Wesen fragt, sondern nur noch danach, wie sich etwas verhält. In dieser Vorgehensweise wird meist eine weise Selbstbeschränkung der Naturwissenschaftler gesehen, da man meint, daß die Menschen das Wesen der Dinge ohnehin nicht erkennen können und daß es darum ein Akt angemessener Bescheidenheit sei, nur noch nach den Relationen zu fragen, in denen die Gegenstände zueinander stehen. Tatsächlich aber war es nicht die moderne Naturwissenschaft, die diese Art der relationalen Betrachtung der Welt eingeführt hat, es war vielmehr Platon, der in seinem Dialog Menon erkennen mußte, daß eine Wesensdefinition nicht ohne einen Zirkel gelingt und daß er darum sein Hypothesis-Verfahren ersinnt, um herauszufinden, wie etwa die Beziehung des Begriffes Tugend zu dem der Lehrbarkeit ist. Und damit fand bereits Plato die später für alle Wissenschaften prägende Form des "Wenn - dann - Satzes" etwa in der Formulierung "Wenn Tugend Wissen ist, dann ist sie lehrbar". Darüber hinaus benutzte Plato an dieser Stelle auch die beiden logischen Schlußweisen des modus ponens und des modus tollens, die mit der Form des "Wenn - dann - Satzes" verbunden sind und die bis heute die methodischen Leitlinien aller wissenschaftlichen Ableitungen und Erklärungen ausmachen.

5. Schwierigkeiten in der Bestimmung des verändernden Kraftbegriffes

Betrachten wir nun den verändernden Kraftbegriff in seiner formalen oder relationalen Beschreibung, so zeigt sich die Schwierigkeit der Grenzziehung zwischen Veränderlichem und Gleichbleibendem. Man beobachte etwa einen Fluß. Zum Fluß gehört das Fließen des Wassers, d. h. das Gleichbleibende des Flusses ist sein Fließen. Das Fließen aber verändert fortlaufend die Lage der einzelnen Bestandteile des Wassers, so daß gesagt werden kann: das Gleichbleibende des Flusses ist seine Veränderung. Demnach müssen wir bestimmt Arten von Veränderungen zulassen, die wir dennoch als etwas Gleichbleibendes betrachten können. Allgemein sprechen wir von Zuständen, um etwas Gleichbleibendes zu charakterisieren, das aber dennoch etwas Veränderliches umfaßt. So sagen wir etwa, ein Fluß sei in einem stationären Zustand, oder eine Pendelbewegung charakterisieren wir als einen Schwingungszustand.

Eine pragmatische Erwägung zeigt, daß wir um die Definition von Zuständen nicht herumkommen. Denn wenn wir einen Vorgang in der Zeit beobachten und beschreiben wollen, so können wir ihn nur als eine Folge endlich großer Teilvorgänge zusammensetzen, von denen wir annehmen, daß sie sich erst für den folgenden Teil des Vorganges wieder ändern, so daß die Beschreibung eines Verlaufes stets die Form hat: Zustand - Zustandsänderung - Zustand - Zustandsänderung u. s. f. So stellt sich etwa die Theorienkinetik der Wissenschaftsgeschichte von Thomas Kuhn als Normalwissenschaft — außerordentliche Wissenschaft — Normalwissenschaft — außerordentliche Wissenschaft — u.s.w. dar. (6)

Erst mit Galilei und schließlich durch Descartes wurde es möglich, Veränderungszustände zu denken, bei denen die Veränderungen, die sie umfaßten, selbst nicht etwa durch eine Kraft verursacht werden mußten. So meint Galilei, daß ein Körper, den man sich selbst überlasse, sich auf Kreisen bewege. Descartes begründete mit seiner theologischen Konzeption, daß Gott die Welt aus einfachsten Bestandteilen aufgebaut habe, damit sie für den Menschen erkennbar ist. Die euklidische Geometrie war zu Descartes Zeit die einzige Theorie, die aus klar und deutlichen Einsichten, den sogenannten Axiomen aufgebaut war. Dadurch konnte es nur zwei kräftefreie Zustände geben, die Gott selbst erhält, die Ruhe, die dem Punkt entspricht und die geradlinig gleichförmige Bewegung, die durch die euklidische Auszeichnung der Geraden bedingt ist. Durch Descartes Trägheitsgesetz: "Ein Körper bleibt in der Ruhe oder in geradlinig- gleichförmiger Bewegung, solange er nicht durch äußere Kräfte daran gehindert wird" entstand eine Idee von einem Zustand, der in der Zeit gleichbleibt, obwohl er ganz bestimmte Ortsveränderungen umfaßt.

6. Die Bestimmung des verändernden und des erhaltenden Kraftbegriffes durch Newton

Mit Descartes Trägheitsgesetz war für Newton eine Handhabe gegeben, den verändernden Kraftbegriff durch eine bestimmte von außen sichtbare Veränderung anzugehen, nämlich durch die Angabe der Änderung des gleichförmigen geradlinigen Bewegungszustandes. Newton nannte dies die "impressed force" oder lateinisch die "vis impressa". Newton hat die hier gemachte Unterscheidung von veränderlicher und erhaltender Kraft entsprechend vorgenommen; denn das, was hier als die erhaltende Kraft bezeichnet wird, beschrieb er als "innate force" oder "vis insita". Es ist die Kraft, die den Zustand der Ruhe oder der gleichförmig geradlinigen Bewegung aufrechterhält. Es ist üblich geworden, diese erhaltende Kraft Trägheit zu nennen. Die allgemeinste Definition der verändernden Kraft ist demnach durch die zeitliche Veränderung der zustandsbestimmenden und zugleich zustandserhaltenden Größe gegeben. Bezeichnen wir die zustandsbestimmende Größe mit Z, den Zeitparameter mit s (für Systemzeit) und die verändernde Kraft mit D; so ergibt sich die einfachste allgemeinste Definition in infinitesimaler Schreibweise als:

D = dZ / ds  (1)

Setzt man in dieser Definition für die Zustandsbestimmende Größe Z den Impuls I und für den Systemzeitparameter s die physikalische Metrisierung der Zeit t ein, so ergibt sich Newtons Kraftbegriff F der klassischen Physik als

F = dI / dt    (2)

Tatsächlich hat Newton den Kraftbegriff auch so allgemein bestimmt, daß dieser sogar die zeitlichen Masseveränderungen der Relativitätstheorie mit umfaßt.

Die allgemeinste Form (1) des verändernden Kraftbegriffes benötigt eine allgemeinste Definition des erhaltenden Kraftbegriffes, da dieser mit der zustandsbestimmenden Größe Z verkoppelt sein muß. Man kann die allgemeine zustandsbestimmende Größe Z mit der allgemeinen Form des erhaltenden Kraftbegriffes identifizieren, wovon ich hier einstweilen ausgehen möchte. Die erhaltende Kraft der Physik wäre demnach mit dem physikalischen Impuls I zu identifizieren.

7. Zustandsbestimmende Größen nicht-physikalischer Systeme

Es fragt sich nun, welche anderen zustandsbestimmenden Größen für nicht physikalische Systeme definierbar sind, wie es biologische Organismen oder Ökosysteme sind. Bei Newton waren es die theologischen Argumente Descartes' über die Gesamtverfassung der Welt, die es ihm ermöglichten, die Ruhe oder die gleichförmig geradlinige Bewegung als die ausgezeichneten Zustände der Materie aufzufassen. Als Zustand wird dabei eine Verfassung der Materie bezeichnet, die sich ohne äußere Einwirkung selbst erhält. Dies ist der Grund dafür, daß sich die Zustandsgröße auch als erhaltende Kraft verstehen läßt. Um andere Zustandsbegriffe bestimmen zu können, bedarf es anderer Vorstellungen über Verfassungen von Materieansammlungen oder noch allgemeiner von Strukturen, die sich selbst erhalten.

Die Natur hat — unter der Voraussetzung gewisser energetischer Umweltbedingungen — eine Fülle von sich selbst erhaltenden Strukturen entwickelt. Darum sollten sich durch die Betrachtung dieser sich selbst erhaltenden biologischen Systeme nicht-physikalische Zustände definieren lassen. Da jedes Lebewesen von anderen Lebewesen abhängig ist, gibt es eine Vielfalt von Abhängigkeitsbeziehungen in der Natur. Da ist z.B. die einseitige Abhängigkeitsform, die etwa im Verhältnis zwischen einem Parasiten und seinem Wirtslebewesen gegeben ist: Der Parasit lebt von seinem Wirt aber nicht umgekehrt der Wirt vom Parasit. Solche parasitären Lebensformen sind nicht selbsterhaltend, da der Parasit sein Wirtslebewesen schädigt und damit seinen eigenen Lebensraum beeinträchtigt oder gar vernichtet. Parasitäre Lebensformen hätten darum keine Überlebenschance, wenn das Überleben nicht durch andere Lebenszusammenhänge gesichert würde. Wenn durch irgendeinen Umstand der Parasit seinem Wirtslebewesen einen Vorteil verschafft, der die durch ihn zugefügte Schädigung wieder wettmacht, dann ergibt sich daraus eine Lebensform gegenseitiger Abhängigkeit, die als symbiotische Form bezeichnet wird. Die symbiotischen Formen gegenseitiger Abhängigkeit haben den gesuchten selbsterhaltenden Charakter, so daß sie als nicht-physikalische Zustände ausgezeichnet werden können.

Diese Betrachtung von selbsterhaltenden Lebensformen läßt sich dahingehend verallgemeinern, daß die Strukturen, die durch gegenseitige Abhängigkeit ausgezeichnet sind, als selbsterhaltende Zustände aufzufassen sind. Ich bezeichne diese Art von Zuständen auch als ganzheitliche Zustände. Fragt man nach der genauen Bestimmung dieser Zustände, um dadurch zu anderen Kraftbegriffen vorzustoßen, so ist der Vergleich mit der Bestimmung des Zustandsbegriffs der newtonschen Physik hilfreich. Die Charakterisierung eines Zustandes wird darin durch ein strukturelles Merkmal und durch ein Merkmal der gleichbleibenden Veränderung, die den Zustand im besonderen kennzeichnet, vorgenommen. Das strukturelle Merkmal ist die Geradlinigkeit der Bewegung einer bestimmten Masse. Die gleichbleibende Veränderung hingegen ist die gleichförmige Ortsveränderung dieser Masse.

Für ganzheitliche Zustände hätte die nähere Bestimmung des strukturellen Merkmals über die Charakterisierung der Struktur gegenseitiger Abhängigkeit zu erfolgen. Wie aber läßt sich bei diesen das Merkmal einer gleichbleibenden Veränderung auffinden? Wie bereits kurz erwähnt, müssen für die Lebensfähigkeit sich selbst erhaltender biologischen Systeme bestimmte energetische Bedingungen erfüllt sein, d.h. biologische Systeme verbrauchen laufend Freie Energie. Da sich die gegenseitigen Abhängigkeiten über irgendwelche Medien vermitteln, gilt das Gleiche auch für nicht-biologische Systeme gegenseitiger Abhängigkeit, etwa für technische Regelsysteme. Die Veränderung von Freier Energie in Entropie wäre also durchaus ein Maß zur Kennzeichnung der gleichbleibenden Veränderung, die mit einem ganzheitlichen Zustand verbunden ist. Diese Kennzeichnung erfolgt jedoch über den rein physikalischen Begriff der Energie, der durch die physikalischen Metrisierungen von Zeit, Länge und Masse bestimmt ist. Das Sich-Verändernde, das die ganzheitlichen Zustände bestimmt und beschreibt, sollte darum durch metrische Systemgrößen wie Systemzeit und Systemlänge gekennzeichnet werden.

8. Systemeigenzustände und Systemeigenkräfte

In den biologischen Realisierungen von ganzheitlichen Strukturen ist die gegenseitige Abhängigkeit der strukturgebenden Teile nicht von gleichzeitiger, weil von logischer Art, wie dies für ganzheitliche Begriffssysteme gilt, sondern die Wechselseitigkeit der Abhängigkeit verläuft über mediale Zwischenträger, etwa so, wie dies in technischen Regelungsanlagen der Fall ist. Dadurch kommt es zu zyklisch umlaufenden ,Erregungen' der sich in gegenseitiger Abhängigkeit befindlichen Systemteile. Als organisches Beispiel dafür mag das Herz-Kreislauf-System angesehen werden, das mit der Blutzirkulation eine solche zyklische Erregung, der Organe und Zellen bewirkt. Nimmt man einmal die Alpha-Welle des Nervensystems als Systemzeitgeber an, dann ergibt sich, daß der ganzheitliche Zustand des Herz-Kreislaufsystems verschiedener eigener Zustände fähig ist, je nachdem, durch wie viele Alpha-Wellen ein Erregungszyklus bestimmt ist. Das Gesamtsystem, in das das Herz-Kreislaufsystem eingebettet ist, bleibt dabei ebenso unverändert, wie das Herz-Kreislauf-System selbst. Solche Systemzustände seien Eigenzustände oder auch Systemeigenzustände genannt und die Kräfte, die sie verändern, Eigenkräfte oder auch Systemeigenkräfte. Die Ursachen für das Auftreten der Eigenkräfte werden im Allgemeinen äußere Einwirkungen sein, sie können aber auch von dem Gesamtsystem selbst ausgehen.

9. Systemkombinationskräfte

Ein anderer Systemkraftbegriff läßt sich gewinnen, wenn es um die Änderung der ganzheitlichen Zustände selbst geht, d.h. um eine Strukturänderung der gegenseitigen Abhängigkeitsbeziehung. Das Problem der genaueren Bestimmung der Struktur ganzheitlicher Zustände führt auf das Problem der systematischen Unterscheidung ganzheitlicher Begriffssysteme. Solange noch keine ausgearbeitete Theorie zur mathematischen Darstellung ganzheitlicher Begriffssysteme vorliegt, kann man nur die formalen Strukturen einfachster ganzheitlicher Begriffssysteme benutzen, um daraus durch die möglichen Zusammensetzungen die möglichen Strukturen höherelementiger ganzheitlicher Begriffssysteme zu bestimmen. Die einfachsten Formen ganzheitlicher Begriffssysteme liegen in den Begriffspaaren vor und in den elementaren ganzheitlichen Begriffs-n-Tupeln. Elementare ganzheitliche Begriffs-n-Tupel sind solche ganzheitlichen Begriffssysteme, die nicht aus ganzheitlichen Begriffssystemen zusammengesetzt sind. Wobei die Frage offen ist, ob mit n=3 bereits das größte elementare n-Tupel gegeben ist oder ob es für jede Primzahl ein elementares n-Tupel gibt oder ob sogar für jede natürliche Zahl, die größer oder gleich 2 ist, ein elementares n-Tupel denkbar ist.

Für Begriffspaare lassen sich symmetrische und asymmetrische Paare sowie gliedernde und umgreifende Paare unterscheiden. Die einfachsten Kombinationen lassen sich in Form der cartesischen Kombination, der Prozedur des Aufblähens und der Bildung des neutralen Elements angeben. Die cartesische Kombination schreibt vor, daß jedes Element eines ganzheitlichen Begriffssystems mit jedem Element eines zweiten ganzheitlichen Begriffssystems, wobei dies auch identisch mit dem ersten sein kann, zu kombinieren ist. Eine eingeschränkte cartesische Kombination liegt dann vor, wenn die cartesische Kombination nicht mit allen Elementen der ganzheitlichen Begriffssysteme vorgenommen wird. Die Prozedur des Aufblähens ist dadurch bestimmt, daß einige oder alle begrifflichen Elemente eines ganzheitlichen Begriffssysteme selbst als ganzheitliche Begriffssysteme aufgefaßt oder durch solche ersetzt werden. Die Bildung des neutralen Elementes liegt dann vor, wenn den begrifflichen Elementen eines ganzheitlichen Begriffssystems mit dem ganzheitlichen Begriffssystem selbst ein weiteres Element hinzugefügt wird. Die Hinzufügung eines anderen ganzheitlichen Begriffssystems als weiteres Element läßt sich nur dann als eine Kombinationsregel zur Erzeugung höherelementiger ganzheitlicher Begriffssysteme verstehen, wenn es eine semantische Beziehung zwischen den Begriffen der Begriffssysteme gibt.

Die hier angegebenen Kombinationsregeln ganzheitlicher Begriffssysteme lassen sich iterativ beliebig fortführen und kombinieren. Dadurch sind alle Strukturen möglicher ganzheitlicher Formen konstruktiv bestimmbar, von denen man wie bei den biologischen Ganzheiten annehmen darf, daß sie sich selbst aus einfachsten Formen zu komplexeren Formen hin entwickelt haben. Dieser Entwicklungsprozeß ist begrifflich nicht anders denkbar, als daß es eine Dynamik des Übergangs von einfach strukturierten Ganzheiten zu komplizierteren ganzheitlichen Formen geben muß. Diese Dynamik soll hier mit dem Systemkraft-Konzept beschrieben werden, indem die Ursachen für den Übergang ganzheitlicher Zustände, die durch die Kombinationsregeln ganzheitlicher Begriffssysteme beschreibbar sind, als Systemkombinationskräfte bezeichnet werden.

10. Das Systemkraftkonzept

So wie die Zustandsänderung in der newtonschen Physik die Definition (2) des newtonschen Kraftbegriffes liefert, so lassen sich durch die hier beschriebenen ganzheitlichen Zustände und deren möglichen Änderungen Systemkräfte wie die Eigenkräfte und die Kombinationskräfte beschreiben, die im Falle lebender Systeme sogar als Lebenskräfte bezeichnet werden können, obwohl die hier gewählte Konzeption auf der Grundlage metrischer Systemgrößen kaum etwas zu tun hat mit den von den sogenannten Vitalisten bezeichneten Lebenskräften.

Aufgrund der Komplexität der Struktur von biologischen Ganzheiten und der sie beschreibenden ganzheitlichen Begriffssysteme können die beiden hier vorgestellten Systemkraftbegriffe nicht mehr nur einen einfachen Vektorcharakter besitzen, wie es in der klassischen Physik der Fall ist. Dies sind allerdings nur allererste Schritte auf dem Weg zu einer Begründung einer theoretischen Biologie, deren Anwendbarkeit erst noch zu erweisen ist.

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Notes

(1) Vgl. W. Deppert, Das Reduktionismusproblem und seine Überwindung, in: W. Deppert, H. Kliemt, B. Lohff, J. Schaefer, Wissenschaftstheorien in der Medizin, de Gruyter, Berlin 1992, S. 275-325.

(2) Vgl. W. Deppert, Die Alleinherrschaft der physikalischen Zeit ist abzuschaffen, um Freiraum fŸr neue naturwissenschaftliche Forschungen zu gewinnen, in: H. M. Baumgartner (Hg.), Das RŠtsel der Zeit, Alber Verlag, Freiburg 1993, S.111- W. Deppert, Zeit. Die BegrŸndung des Zeitbegriffs, seine notwendige Spaltung und der ganzheitliche Charakter seiner Teile. Steiner Verlag, Stuttgart 1989. 284 S.

(3) Zur systemtheoretischen Behandlung von Organismen vgl. auch L. v. Bertalanffy, Zu einer allgemeinen Systemlehre, Blätter für deutsche Philosophie, 18, 3 / 4, 1945 oder ders. Das biologische Weltbild, Böhlau, Wien 1990.

(4) Zur historischen Entwicklung des Kraftbegriffes vgl. E. J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, Springer Verlag, Berlin 1983 oder M. Jammer, Concepts of Force. A Study in the Foundations of Dynamics, Cambridge Mass. 1957.

(5) W. Deppert, Hierarchische und ganzheitliche Begriffssysteme, in: G. Meggle (Hg.), Analyomen 2 - Perspektiven der analytischen Philosophie, Perspectives in Analytical Philosophy, Bd. 1. Logic, Epistemology, Philosophy of Science, De Gruyter, Berlin 1997, S. 214-225.

(6) Vgl. Th. S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962.

Literatur

L. v. Bertalanffy, Zu einer allgemeinen Systemlehre, Blätter für deutsche Philosophie, 18, 3 / 4, 1945 oder ders. Das biologische Weltbild, Böhlau, Wien 1990

W. Deppert, Das Reduktionismusproblem und seine Überwindung, in: W. Deppert, H. Kliemt, B. Lohff, J. Schaefer, Wissenschaftstheorien in der Medizin, de Gruyter, Berlin 1992, S. 275-325.

W. Deppert, Hierarchische und ganzheitliche Begriffssysteme, in: G. Meggle (Hg.), Analyomen 2 - Perspektiven der analytischen Philosophie, Perspectives in Analytical Philosophy, Bd. 1. Logic, Epistemology, Philosophy of Science, De Gruyter, Berlin 1997, S. 214-225.

W. Deppert, Die Alleinherrschaft der physikalischen Zeit ist abzuschaffen, um Freiraum fŸr neue naturwissenschaftliche Forschungen zu gewinnen, in: H. M. Baumgartner (Hg.), Das RŠtsel der Zeit, Alber Verlag, Freiburg 1993, S.111.

W. Deppert, Zeit. Die BegrŸndung des Zeitbegriffs, seine notwendige Spaltung und der ganzheitliche Charakter seiner Teile. Steiner Verlag, Stuttgart 1989.

E. J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, Springer Verlag, Berlin 1983.

M. Jammer, Concepts of Force. A Study in the Foundations of Dynamics, Cambridge Mass. 1957.

Th. S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962.

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