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Theoretical Ethics

Die Urbild-Abbild-Problematik aus ethischer Sicht

Karen Gloy

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ZUSAMMENFASSUNG: Nach einer heute weit verbreiteten Auffassung besteht zwischen Sein und Sollen, deskriptien und normativen Aussagen, Theorie und Praxis eine Interdependenz. Man hegt die Meinung, daß die vorstellung, die wir uns von der Welt machen, das Bild von der Nature, der Gesellschaft oder von welchem Bereich immer, bestimmte Handlungsintentionen aufweist, d.h. bestimmte Verhaltensweisen veranlaßt und urgiert, während sie andere zurückweist, ablehnt, verhindert. Ein bestimmtes theoretisches Rahmenwerk enthält Anreize und Motivationen für bestimmte Handlungen, wie es Hemmschwellen für andere Verhaltensweisen aufbaut. Es enthält einen Kodex erwünschter und erlaubter sowie gerade noch geduldeter Handlungen wie auch untersagter, die einem anderen, alternativen Rahmenwerk angehören. Da deskriptive und normative Aussagen Hand in Hand gehen, lassen auch umgekehrt bestimmte Verhaltens- und Handlungsdispositionen auf den dahinter stehenden, leitenden Vorstellungsrahmen schließen. Denkbar ist folgende Alternative: Entweder gibt die vorgegebene Natur- und Seinsordnung das Vorbild, die Richtschnur und den Maßstab für unser Handeln ab, so daß sich das Handeln der Nature anpassen, nach- und Mitvollzug der natürlichen Ordnung sein muß, oder das menschliche Subjekt legt die Bedingungen und Normen für das Verhalten gegenüber der Natur fest, so daß umgekehrt die Natur sich nach diesen Bedingungen richten muß und Handeln zum Konstruieren der Natur wird.

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Die Alternative zwischen Sein und Sollen

Nach einer heute weit verbreiteten Auffassung besteht zwischen Sein und Sollen, deskriptiven und normativen Aussagen, Theorie und Praxis eine Interdependenz. Man hegt die Meinung, daß die Vorstellung, die wir uns von der Welt machen, das Bild von der Natur, der Gesellschaft oder von welchem Bereich immer, bestimmte Handlungsintentionen aufweist, d.h. bestimmte Verhaltensweisen veranlaßt und urgiert, während sie andere zurückweist, ablehnt, verhindert. Ein bestimmtes theoretisches Rahmenwerk enthält Anreize und Motivationen für bestimmte Handlungen, wie es Hemmschwellen für andere Verhaltensweisen aufbaut. Es enthält einen Kodex erwünschter und erlaubter sowie gerade noch geduldeter Handlungen wie auch untersagter, die einem anderen, alternativen Rahmenwerk angehören. Da deskriptive und normative Aussagen Hand in Hand gehen, lassen auch umgekehrt bestimmte Verhaltens- und Handlungsdispositionen auf den dahinter stehenden, leitenden Vorstellungsrahmen schließen.

Denkbar ist folgende Alternative: Entweder gibt die vorgegebene Natur- und Seinsordnung das Vorbild, die Richtschnur und den Maßstab für unser Handeln ab, so daß sich das Handeln der Natur anpassen, Nach- und Mitvollzug der natürlichen Ordnung sein muß, oder das menschliche Subjekt legt die Bedingungen und Normen für das Verhalten gegenüber der Natur fest, so daß umgekehrt die Natur sich nach diesen Bedingungen richten muß und Handeln zum Konstruieren der Natur wird.

Zwischen diesen beiden Ansätzen, dem naturalistischen und dem konstruktivistisch-operationalistischen, ist historisch ein Wandel zu konstatieren. Während in der Antike der Kosmos, der schon dem Namen nach Wohlordnung und Schönheit bedeutet, das Vorbild abgab, das zu imitieren war, um in der Seele des Menschen dieselbe Harmonie zu erzeugen und so einen Gleichklang zwischen Innen und Außen herzustellen, und wenn in der Stoa das naturgemäße Leben nach der lex naturae das Handeln leitete, ebenso im Mittelalter die gottgegebene Seinsordnung das Paradigma bildete, nach der das Leben und die Gesellschaft auszurichten waren, so trat im 17. Jahrhundert mit dem Aufkommen der mechanistischen Weltsicht eine radikale Änderung ein, dahingehend, daß die gesamte Natur als Maschine (machina mundi), mithin als Konstrukt in Analogie zu Kunstwerken des menschlichen Geistes, betrachtet wurde. Die menschliche Handlung wurde damit zu einem Konstruieren.

Die Kontroverse zwischen Naturalismus und Operationalismus (Transzendentalpragmatik) ist mit ungeahnter Vehemenz im letzten Viertel unseres Jahrhunderts im Zuge der Einführung und Ausübung der Gentechnologie wieder aufgeflammt und hat eine Ethikdiskussion zwischen Kritikern und Befürwortern ausgelöst, wie sie schärfer und unversöhnlicher nicht gedacht werden kann. Da der Mensch mittels Genmanipulation, einem maître et possesseur de la nature gleich, in die Natur eingreifen und sie nach seinen Vorstellungen, Wünschen und Interessen modellieren und damit die jahrtausendealten Klassifikationen und Ordnungen verrücken kann, wird die Frage unabweisbar, ob er den Maßstab für das Verhalten gegenüber der Natur festlegen dürfe oder ob er umgekehrt die vorgegebene Ordnung und das darauf basierende Wertesystem in seinen Handlungen akzeptieren und zum Vorbild nehmen müsse.

Um die Tragweite dieser Frage zu ermessen, ist zunächst ein Blick auf die radikalen, mit der Gentechnologie verbundenen Umwälzungen zu werfen, um daran die Erörterung des naturalistisch-fundamentalistischen und des subjektivistisch-operationalistischen Standpunktes anzuschließen und an ihnen die ethischen Konsequenzen aufzuzeigen.

Die Genrevolution

Verfuhr die Biologie bis ins 20. Jahrhundert hinein deskribierend, klassifizierend und typisierend, indem sie die vorgegebenen pflanzlichen und tierischen Organismen nach ihren Merkmalen ordnete, so verfährt sie seit den siebziger Jahren konstruierend, indem sie in die biologischen Prozesse eingreift, Organismen variiert oder sogar neue aus genetischem Material erzeugt. Die biologische Erkenntnis ist nicht länger mehr ein rezeptiver Vorgang, der das zu Definierende schlicht konstatiert und durch Klassifikation nach Gattungen, Arten und Unterarten lediglich ordnet, sondern ein operationaler, der durch Handlungsanweisungen und Konstruktionen das zu Definierende allererst produziert. Da die Biologie mit dieser Methode Anschluß an das Konstruktionsverfahren der exakten Wissenschaften, der Physik und Chemie, gewonnen hat, ist sie diesen nicht länger wie in früheren Jahrhunderten subordiniert, sondern zu einer ihnen gleichrangigen Wissenschaft avanciert.

Seitdem 1972 erstmals die Zerschneidung von DNS und die Zusammenfügung der Fragmente in anderer Folge und damit die Schaffung der ersten DNS-Rekombinante gelang und ein Jahr später die Kombination zweier unterschiedlicher DNS und damit die erste chimäre Zusammensetzung, ist der Forschung der Weg eröffnet für Genrekombinationen und -manipulationen jeder Art. Praktische Anwendung finden die Laborergebnisse sowohl im pflanzlichen wie im tierischen wie im menschlichen Bereich, wobei auf allen drei Gebieten zwei Ziele verfolgt werden: Leistungssteigerung zum einen, Erzeugung neuer Arten und Rassen zum anderen.

Furore gemacht haben besonders die völligen Neukombinationen im pflanzlichen Bereich, z.B. die Aufzucht einer Hybride aus Kartoffel und Tomate, „Tomoffel" bzw. „Kamate" genannt, im tierischen Bereich die Züchtung einer Chimäre aus Schaf und Ziege, das sogenannte „Zaf" oder die sogenannte „Schiege" oder neuerlich die Klonung eines Schafes. Und schon 1962 haben Wissenschaftler auf einem Ciba-Symposium in London (1) ernsthafte Erwägungen über einen gentechnisch hergestellten, der Raumfahrt optimal angepaßten Menschen mit Greifschwanz und Greifarmen nach Art von Affen und einem zurückgebildeten, weil hinderlichen Becken angestellt.

Das Neue dieser gentechnischen Revolution besteht nicht so sehr in der Quantität als vielmehr in der Qualität der Veränderung, ihrer Tiefe und Reichweite, die nicht nur das Individuum, sondern die Art und Gattung betrifft, und dies nicht nur in einer Generation, sondern aufgrund der Vererbbarkeit der Gene und der damit eingeleiteten irreversiblen Entwicklung in allen folgenden. Sie unterscheidet sich so gravierend von der konventionellen Züchtung, die seit Jahrtausenden betrieben wird—spätestens seit der Eiszeit der Getreideanbau und die Domestizierung von Tieren. Da die neue Wissenschaft und Technik für den Menschen eine ungeahnte Machtfülle mit sich bringt, die ihm eine gottähnliche Stellung verschafft und ihn zum zweiten Schöpfer avancieren läßt, ohne gleichzeitig sein Wissen zur Allweisheit zu erweitern, ist es verständlich, daß diese Methode zwangsläufig in Konflikt mit der herrschenden Moral gerät.

Der fundamentalistische Standpunkt

Die Diskussion um die Gentechnologie und ihre Folgen spaltet die an der Diskussion Beteiligten in zwei Lager: Fasziniert von den sich eröffnenden Möglichkeiten, fortschrittsgläubig, optimistisch ganz im Banne des immanenten Zwangs dieser Wissenschaft, bejahen, verteidigen und unterstützen die einen diese Forschungsrichtung, während die anderen, besorgt und verängstigt über die unabsehbaren, unbeherrschbaren Folgen, die radikalen Veränderungen im Denken und Handeln sowie den Ordnungsschwund, diesen Wissenschaftszweig kritisieren und zu verhindern suchen. In diesen beiden Extrempositionen drücken sich die beiden gegensätzlichen Bestrebungen des Menschen aus: Erneuerung auf der einen Seite, Bewahrung auf der anderen. Hat für die einen die Erhaltung des Status quo und die Anpassung an Vorgegebenes Vorrang, so für die anderen die Revolutionierung der Normen. Unschwer wird man die Repräsentanten der ersteren Position im Lager der Moraltheologen, der Umwelt-, Tier- und Pflanzenschützer, der besorgten und verängstigten Bürger antreffen, die anderen im Lager der Wissenschaftler, Techniker und Vertreter von Industrie und Kommerz.

Kurt Bayertz hat nicht zu Unrecht die beiden diametral entgegengesetzten Positionen auf die Begriffe „Substantialismus" und „Subjektivismus" (2) gebracht, wobei er unter der substantialistischen Haltung diejenige versteht, die vom Vorfindlichen ausgeht, sei es, theologisch gesprochen, von der gottgewollten Schöpfung, sei es, metaphysisch gesprochen, von der vorliegenden Seinsordnung, sei es, naturalistisch gesprochen, von der natürlichen Ordnung, die als Naturrecht betrachtet wird. Diese Vorgegebenheiten einschließlich der vorgegebenen Grenzen gilt es zu respektieren und zu schützen; sie bilden die Norm, die es im Denken, Handeln und Evaluieren zu beachten gilt. Einbezogen ist auch der Mensch, der als Teil dieser Ordnung eine vorgegebene, schutzbedürftige Substanz mitbringt, mag sie im Körper, in der Seele oder in beiden bestehen.

Konfrontiert ist dieser Position die subjektivistische, die die spezifisch anthropologischen Merkmale der Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung hervorhebt, die seit der Aufklärung im neuzeitlichen philosophischen, ethischen und politischen Diskurs eine so große Rolle spielen und zu Hauptkategorien avanciert sind. Mit ihnen ist der Weg der Herrschaft des Menschen nicht nur über sich, sondern auch über die außermenschliche Natur eröffnet, der die gesamte Skala von Optimierung der Fähigkeiten und Kräfte bis hin zu Zerstörung und Untergang umfaßt. In dieser Selbstbestimmung wird die ureigenste Möglichkeit des Menschseins gesehen; die Realisierung und Perfektionierung dieser Fähigkeiten entsprechen der Selbstverwirklichung des Menschen.

Da im Unterschied zur theoretischen Philosophie die praktische keine bloße Deskription und Analyse ist, sondern universelle Verbindlichkeit beansprucht, wie sie im kategorischen Imperativ „du sollst" oder „du mußt" zum Ausdruck kommt, bedarf es zur Sicherung des Geltungsanspruchs allgemeinverbindlicher, überindividueller Kriterien. Sittliche Gesetze und Vorschriften beanspruchen universelle Gültigkeit für alle Menschen zu aller Zeit in allen Situationen und sind nicht nur hin und wieder einmal gültig, für diesen oder für jenen. Ein solcher Anspruch läßt sich nur durch Rekurs auf das jeweils für verbindlich erachtete, normative Welt- und Naturbild einlösen, von dem aus argumentiert wird und das als Hintergrundwissen in allen Argumentationen mitschwingt.

Für eine objektive universelle Begründung der Ethik, d.h. für eine substantialistische bzw. fundamentalistische, bieten sich drei Kandidaten an: 1. vom theologischen Standpunkt die göttliche Ordnung, wie sie in der Schöpfung manifest ist, 2. vom metaphysischen Standpunkt die vorgegebene Seinsordnung und 3. vom naturalistischen die natürliche Ordnung der Dinge. In allen drei Fällen sind Inhalt, Umfang und Grenzen festgelegt; sie gelten als unantastbar.

Für das religiöse Welt- und Naturverständnis—und das gilt nicht nur für die jüdisch-christliche Religion, sondern auch für die buddhistische, hinduistische usw.—gilt die Natur als gottgewollte Schöpfung und der Mensch als Teil in ihr. Natur ist von Gott gewollt und so gewollt, wie sie ist, und daran hat der Mensch nichts zu ändern. Der Schöpfungsgedanke und der mit ihm verbundene Gedanke des Eigenwertes der Natur verbieten Manipulationen. „Die Würde der Schöpfung ist genetisch unantastbar" (3) — ein solcher Satz von Hans Markl wird ebenso zur Devise einer religiös begründeten Ethik wie das „Verbleiben in den Grenzen der Natur", (4) das Ulrich Eibach vorschlägt, oder die Bewahrung der Schöpfung mit ihrer Artenvielfalt, die nicht zugunsten gentechnisch hergestellter Monokulturen geopfert werden dürfe, oder auch die Bewahrung der vorgegebenen Klassifikation, die nicht durch Chimärenbildung zu verwirren sei, bedeute dies doch einen Ordnungsschwund.

Abstrahiert man auf der Suche nach moralischer Orientierung und Begründung von religiösen Motiven, so bleiben nur metaphysische übrig, die in der Seinsordnung gründen. Um von einer Seinsordnung sprechen zu können, bedarf es einer Teleologisierung und Moralisierung des Seins, einer Identifizierung von Seins- und Werteordnung, die gewöhnlich auseinanderklaffen. Eine solche hat Hans Jonas in seinem Buch Das Prinzip Verantwortung (5) unterstellt und zu legitimieren versucht. Dabei beruft er sich auf die Tatsache subjektiver Zwecksetzungen durch menschliche Individuen. Da 1. Subjektivität ein Evolutionsprodukt aus der organischen und anorganischen Natur ist und 2. Evolution einen graduellen Entwicklungsprozeß darstellt, der keine Sprünge, kein unvermitteltes Auftreten neuer Eigenschaften kennt, verweisen die subjektiven Zwecksetzungen auf objektive Zwecke in der Natur. Sie sind quasi die Spitze eines Eisberges, der in der gesamtheitlichen und durchgängigen Zweckhaftigkeit der Natur besteht.

Als dritte Legitimationsinstanz einer fundamentalistischen Ethik gilt das Naturrecht, wie es auf der vorgegebenen Natur und ihrer Ordnung, ihrer vorfindlichen Gliederung und Klassifikation basiert. „Was natürlich ist, ist auch rechtens", lautet der Grundsatz der naturalistischen Ethik, oder „propria non sunt laedere" („Eigentum ist nicht zu verletzen").

Heiligkeit der Natur, Bewahrung der Schöpfung, Schutz der anvertrauten Güter, Sorgfaltspflicht gegenüber dem natürlich Vorgegebenen, Respektierung der abgesteckten Grenzen u.ä. sind die Postulate einer sich auf göttliches Recht, auf Metaphysik oder auf das Naturrecht stützenden Ethik.

Doch alle drei Fundierungen sind ambivalent und letzten Endes fragwürdig. Was besagt die Erhaltung des Status quo? Schließt der Status quo jede Veränderung aus, oder impliziert er gerade Veränderung und Evolution? Da die gegenwärtige Natur und wir selbst in ihr das genetische Produkt eines langen Evolutionsprozesses sind, der auch in Zukunft weitergehen dürfte, verbirgt sich hinter der Meinung, die auf den Status quo abstellt, ein konservatives Element. Ein solches ist nicht nur der christlichen Moraltheologie eigen, sondern fast allen Religionen, die die Tendenz zum Bewahren des Bestehenden haben. Neuerungen, welche mit Veränderungen, Umbrüchen, eventuell sogar Revolutionen, kurzum mit Auflösungserscheinungen einhergehen, sind ihnen suspekt. Das Zu-Ende-Denken dieser Einstellung schlösse aber nicht nur die als künstlich empfundenen gentechnischen Eingriffe aus, sondern auch die natürlichen Methoden zur Domestizierung und Züchtung von Tieren, desgleichen die Kultivierung von Pflanzen wie überhaupt jede Art technischen Eingriffs einschließlich der Kultur, ist doch auch Kultur eine Form der Beherrschung der Natur.

Wird Evolution im Status quo involviert gedacht, so werden gentechnische Eingriffe in die Natur nicht von vornherein abgelehnt, sondern sogar gefordert. So weist der protestantische Theologe Jürgen Hübner (6) die These vom unerlaubten Natureingriff zurück aufgrund des Arguments, daß der Mensch mit seinen technischen Fähigkeiten selbst zur Natur gehöre und insoweit eine mitgestaltende Kraft der Evolution sei, und Hans-Martin Sass (7) hält gemäß seiner Forderung nach einer offensiven Ethik die Reproduktion neuer Nutzpflanzen und Tierrassen nicht nur für ethisch akzeptabel, sondern in gewissen Fällen geradezu für gefordert.

So ambivalent sich die religiös fundierte Ethik erweist, so ambivalent erweisen sich auch die metaphysische und naturalistische. Die Berufung auf die vorgegebene Natur—die außermenschliche wie die menschliche—zum Zwecke des Verbots gentechnischer Eingriffe übersieht 1., daß schon die Natur selbst Abweichungen und Abnormitäten zuläßt, z.B. eineiige Zwillinge, siamesische Zwillinge, heterogene Wesen usw., und 2., daß schon die Natur selbst Chimären erzeugt, nämlich Maultiere, und damit grenzüberschreitend und klassifikationsaufhebend wirkt, und 3., daß schon die Natur selbst nicht statisch, sondern dynamisch und evolutionär ist. So wie sich die Natur momentan zeigt, stellt sie lediglich einen Ausschnitt und ein Durchgangsstadium eines fortschreitenden Evolutionsprozesses dar.

Der freiheitlich-subjektivistische Standpunkt

Die Gegenposition zum gebundenen, fundamentalistischen Standpunkt nimmt der freie, subjektivistische Standpunkt ein, der sich als progressiv versteht und auf die Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen beruft. Der Mensch reklamiert hier eine gottgleiche Stellung für sich, vermag er doch erstmals in der Geschichte massiv in den evolutionären Prozeß einzugreifen, ihn zu dirigieren und zu manipulieren. Konnte er in beschränkter Weise auch schon früher durch natürliche Züchtung intervenieren, so erweitern sich seine Möglichkeiten durch gentechnische Eingriffe ins Unermeßliche, indem er nun Geschöpfe seiner Phantasie und Willkür zu produzieren vermag. Selbst Resultat der Evolution, imitiert er in bezug auf seine Artgenossen und die außermenschliche Natur den Evolutionsprozeß und vollzieht auf artifizielle Weise, was die Natur auf natürliche ausführt, nur in wesentlich kürzeren Zeiträumen. Die Entscheidung, diese oder jene bestimmte Genmanipulation vorzunehmen, diese oder jene Richtung einzuschlagen, hängt jetzt allein von seinem Gutdünken ab, was ihm allerdings auch die Verantwortung für sich und seine Nachkommen sowie für die gesamte Natur aufbürdet, die um so schwerer wiegt und auch empfunden wird, wie nicht gleichzeitig die Einsicht in das Ganze mitwächst und ihm die Allwissenheit Gottes versagt bleibt. Wirkte bislang die Berufung auf eine vorgegebene Gottes-, Seins- oder Naturordnung als entscheidungs-, handlungs- und verantwortungsentlastend, so trägt der Mensch jetzt allein kraft freier Entscheidung die Verantwortung.

Damit wird die Frage virulent, welches Konzept genetischer Gestaltung der Mensch seinem Handeln in bezug auf die Natur zugrunde legen solle, welches Ziel er anstreben, welche Kriterien er bei der Auswahl ansetzen solle. Zwei Möglichkeiten der Zweck- und Zielbestimmung sind denkbar: eine materiale und eine rein formale.

Eine Ethik, die von materialen Zwecken her argumentiert, stellt der Utilitarismus dar, der sich auch als Nützlichkeitserwägung, als Kosten-Nutzen-Kalkül versteht. Im utilitaristischen Vulgärverständnis gelten äußere Glücksgüter wie materieller Reichtum, ausreichende Ernährung, komfortables Wohnen, Schutz gegen Unbill u.ä. als erstrebenswert, ebenso Gesundheit, körperliche Tüchtigkeit, Stärke, langes Leben, ewige Jugend. An immateriellen Gütern werden Intelligenz, leichte Auffassungsgabe, gutes Gedächtnis u.ä. genannt.

Das Problem materialer Ziel- und Zwecksetzung besteht jedoch darin, daß verschiedene Individuen und Gesellschaften verschiedene Idealvorstellungen haben. Die einen präferieren diese, die anderen jene. Auch pflegen sich diese bekanntlich schnell zu ändern im Leben sowohl des einzelnen wie der Gesellschaft, wie gerade unsere schnellebige Zeit mit den sich überschlagenden Moderichtungen zeigt.

Angesichts der Variabilität materialer Zwecksetzung legt sich die zweite Interpretation, die formale, nahe. Sie läßt das Ziel offen bzw. rekurriert auf den Umstand, daß das Ziel wechselnde Festlegungen erfahren kann, die in eine bestimmte Richtung gehen, aber auch richtungslos bleiben können. Der Prozeß der gentechnischen Eingriffe wird dann als ein unendlicher gedacht: Ist ein Ziel erreicht, dann stellt sich die Frage nach einem neuen und danach die Frage nach einem dritten und vierten usw., so daß sich eine Sequenz von Zielvorgaben und Zielverwirklichungen in unabschließbarer Folge ergibt. Der Prozeß ist ohne definitives Ziel, vergleichbar der natürlichen Mutation, die auch nicht stracks auf ein Ziel zusteuert, sondern eher einem Ausprobieren und Basteln, einem trial and error gleicht. Der Mensch mit seinen Fähigkeiten, seiner Wissenschaft und Technik einschließlich der Gentechnologie, der selbst Produkt der Evolution ist, imitiert hier bewußt den Naturprozeß.

Eine Ethik, die diesem Sachverhalt am ehesten Rechnung trägt, ist die Diskursethik Habermasscher Prägung. Hier bestimmen die Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft, die als ideale Diskurspartner unterstellt werden, welche sich durch gleiche Voraussetzungen: gleiche Bildung, gleiche Artikulationsfähigkeit, gleiche Freiheit usw. auszeichnen, in einer idealen Gesprächssituation, dem herrschaftsfreien Diskurs, durch Konsens die Ziele.

Habermas’ Forderung nach Universalität im ausnahmslosen Konsens aller, wodurch subjektivitätstheoretisch die objektive Wahrheit oder Norm freigelegt werden soll, ist allerdings unerfüllbar. Denn realistischerweise ist niemals von einem Generalkonsens auszugehen, gerade nicht in Konfliktfällen, wie sie bei gentechnologischen Zielsetzungen auftreten, vielmehr wird es stets überzeugte Abweichler nach dieser oder jener Seite geben. Die These von der Deckungsgleichheit von objektiver Wahrheit bzw. absoluter Norm und kollektivem Konsens, anders gesagt, die These von der Offenbarung des einen durch das andere ist eine Idealvorstellung, die, wenn sie wirklich zuträfe, schon ein einziges Subjekt zur Offenbarung der objektiven Wahrheit bzw. der absolut verbindlichen Norm ausreichen ließe statt einer kollektiven Einheit. So kann es immer nur um größtmöglichen Konsens gehen.

Gegenwärtige Krise

Bedenkt man den Sinn und Zweck von Moral, so steht diese niemals im herrschaftsfreien Raum, sondern hat stets eine gesellschaftskonstituierende Funktion. Sie legt eine Sozietät auf gewisse normative Gemeinsamkeiten fest, um deren Bestand und Überleben und leichteres Agieren zu ermöglichen, das Gute zu mehren und das Schlechte zu mindern. „Die Moral ist für den Menschen geschaffen, nicht der Mensch für die Moral", lautet ein pointierter Ausspruch William K. Frankenas. (8) Können die dazu erforderlichen Verbindlichkeiten nicht mehr nach fundamentalistischer Ansicht durch Rekurs auf eine objektive Ordnung–eine göttliche, seinsmäßige oder natürliche—gewonnen werden, so bleibt nur übrig, sie nach subjektivistischer, freiheitlicher Sicht durch Rekurs auf die Ratio des Menschen und seine Fähigkeit zur Konsensbildung zu legitimieren: An die Stelle der objektiven Seinsordnung ist die Vernunft als Richtschnur und Leitfaden zu setzen.

Moralische Handlungsanweisungen, Gebote wie Verbote, schöpfen, auch wenn sie relativ sind, ihre Verbindlichkeit aus bestimmten Vorstellungen von Welt und Natur, wie umgekehrt bestimmte theoretische Konzepte von Welt und Natur bestimmte Verhaltensweisen fordern. Beide verhalten sich reziprok zueinander. Ändern sich Welt- und Naturbild, so zieht dies eine Änderung der Ethik nach sich, ändert sich die Ethik, so verlangt dies ein neues Welt- und Naturbild. Im Blick auf die Geschichte unterliegt es keinem Zweifel, daß kulturelle, geistige, ökonomische und so auch wissenschaftliche und technische Entwicklungen Veränderungen der Moral zur Folge haben. Jede Innovation sprengt alte Verbindlichkeiten und sucht neue. Jede Entdeckung, jede strukturelle Änderung will letztlich auch moralisch abgesichert sein. Der entwicklungsgeschichtliche Übergang von einer Menschheitsstufe zur anderen, von der Sammler- und Jägerkultur zu der von Pflanzen- und Viehzüchtern, vom Tauschhandel zum Kommerz usw., verlangte jeweils die Anpassung der Moral. Nicht zu Unrecht gilt bezüglich der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung das Wort, daß die Wissenschaft und Technik unser Schicksal geworden sei. Die wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten und Innovationen fordern eine Anpassung der Moral. Denn was wissenschaftlich entdeckt wird, wird über kurz oder lang auch technisch realisiert und sucht daher nach einem generellen moralischen Konsens.

Wenn wir gegenwärtig einen Umbruch in der Moral erleben, so zielt er darauf ab, eine Genethik mit Freisetzung der Genmanipulation zu etablieren. Da hierzu das alte Weltbild mit seinen starren, fixen Klassifikationen und seiner anthropozentrischen Ausrichtung abgebaut werden und durch ein neues dynamisches, evolutionäres substituiert werden müßte, stößt dies in weiten Gesellschaftsschichten auf Ablehnung, bedeutet dies doch eine Umkehrung des ethischen Urbild-Abbild-Verhältnisses, wie es seit der Antike und während des gesamten Mittelalters und teilweise während der Neuzeit gegolten hat. Ob diese Umkehrung sich durchsetzen oder am entschiedenen Widerstand scheitern wird, muß abgewartet werden.

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Notes

(1) Das umstrittene Experiment: Der Mensch. Siebenundzwanzig Wissenschaftler diskutieren die Elemente einer biologischen Revolution (Titel der englischen Originalausgabe: Man and Future, London 1963), übersetzt von K. Prost, München, Wien, Basel 1966 (Sonderausgabe der Sammlung Modelle für eine neue Welt, hrsg. von R. Jungk und H.J. Mundt).

(2) K. Bayertz: Gen-Ethik. Probleme der Technisierung menschlicher Fortpflanzung, Reinbek b. Hamburg 1987, S. 120f, 205f.

(3) H. Markl: Gentechnik und Ethik. Rede zur Verleihung des Arthur-Burkhardt-Preises 1989, Stuttgart 26.4.1989 (Ms), S. 42 (den Satz hält er allerdings für unhaltbar und decouvriert ihn als Naturmystizismus).

(4) U. Eibach: Einführungsreferat in den Arbeitskreis: Ethische, moralische und theologische Aspekte der Gentechnologie, in: Biotechnik und Gentechnologie—Freiheitsrisiko oder Zukunftschance? Dokumentation eines Fachkongresses am 7. und 8.1.1985, hrsg. von der Friedrich-Naumann-Stiftung (Gentechnologie. Chancen und Risiken, Bd. 15, München 1985), S. 65-91, bes. S. 78.

(5) H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. Main 1979.

(6) Vgl. J. Hübner: Biochemie als Lebenschance und Lebensrisiko, in: Risiken der Genethik, hrsg. von J. Harms (Arnoldshainer Texte, Bd. 55), Frankfurt a. Main 1988, S. 87-103, bes. S. 96f.

(7) Vgl. H.-M. Sass: Methoden ethischer Güterabwägung in der Biotechnologie, in: Ethische und rechtliche Fragen der Gentechnologie und der Reproduktionsmedizin. Dokumentation eines Symposiums der Landesregierung Baden-Württemberg und des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft in Verbindung mit der Universität Tübingen vom 1.-4. September 1986 in Tübingen, hrsg. von V. Braun, D. Mieth, K. Steigleder (Gentechnologie. Chancen und Risiken, Bd. 13), München 1987, S. 89-110, bes. S. 92.

(8) W.K. Frankena: Analytische Ethik. Eine Einführung (Titel der Originalausgabe: Ethics, Englewood Cliffs [New Jersey] 1963), hrsg. und übersetzt von N. Hoerster, München 1972. S. 64.

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