Die Moralität der Natur und die Natur der Moralität: Kritische Bemerkungen zur Evolutionären Ethik Christian H. Krijnen
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I Versteht man unter Ethik das Theoretisieren über das Praktische, dann lehrt ein Blick in die Geschichte der Ethik nicht nur, daß wir hier eine Vielheit ethischer Konzeptionen, ob aristotelischer, kantischer oder naturalistisch-utilitaristischer Prägung unterscheiden können. Zugleich, und hier vor allem, macht dieser Blick deutlich, daß aus dem bloßen (Da)Sein einer Ethik nicht ipso facto ihre Geltung folgt. Als Objektivation (Leistung) des endlichen Vernunftwesens Mensch ist eine Ethik zwar geltungsbezogen, jedoch zugleich, wie jede menschliche Objektivation, durch Geltungsdifferenz, d.h. durch mögliche Geltung, qualifiziert. Sofern eine Ethik nicht bloße Meinung (doxa) hinsichtlich des Guten und seiner Implikationen, sondern wissenschaftliche Erkenntnis (episteme) derselben sein soll, so hat sie ihre Auffassungen zu begründen und damit argumentativ zu erhärten. Strikte fungiert das Streben methodisch vermittelt die Warum-Frage zu beantworten gar als das movens wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt. Aufgrund dieser immanenten Begründungstendenz wissenschaftlicher Erkenntnis wird diese nach einer endlichen Anzahl von Begründungsschritten unausweichlich nicht weniger vor der Warum-Frage hinsichtlich ihrer eigenen Grundlagen und Prinzipien gestellt. Die Antwort auf die Frage: was ist Erkenntnis?, gibt dann die Bestimmungsoder Definitionsstücke, und damit die Eigenbestimmtheit, der Erkenntnis her. Diese Eigenbestimmtheit des ursprünglich bestimmenden Begriffs der Erkenntnis ist zwar von jeder konkreten Erkenntnis unterschieden, aber als deren Prinzip, Bedingung der Möglichkeit, strukturale oder formale Bestimmtheit intrinsisch auf sie bezogen und in jedweder konkreten wissenschaftlichen Aussage vorausgesetzt. So handelt es sich hier um ein einseitiges Begründungs- und wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis von Prinzip und Konkretum. Das Prinzip ist zwar in seiner Geltung vom Konkretum unabhängig, aber seine Funktion besteht gerade darin, Prinzip für Konkreta (und folglich nicht abstrakte Allgemeinheit) zu sein. (1) In jener intrinsischen Bezogenheitsrelation von Prinzip und Konkretum liegt nicht nur die Rückbezogenheit jeglicher philosophischen Disziplin auf die Erkenntnistheorie als Lehre, welche die Erkenntnis als solche und folglich die Möglichkeit der Philosophie selbst zum Gegenstand hat. Insbesondere wird mit ihr deutlich, daß das konkrete menschliche Erkennen keineswegs in seiner Geltungsdifferenz und daher in seiner Unvollkommenheit beruht. Vielmehr setzt es sich in bezug auf einen Inbegriff von Prinzipien, nach denen es sich richten soll, wenn es wahr sein will. Wenn aber schon das Erkennen sich selbst die Aufgabe seiner Selbstgestaltung setzt und also in bezug auf sich selbst etwas Bestimmtes will, dann wird die klassische Frage der Ethik nach dem Guten, d.i. was sollen wir tun?, bzw. aus welchem Grund fließt echte Gutheit für unser Wollen, Tun und Lassen?, präzise faßbar. Denn nach dem Begründungsstreben wissenschaftlicher Erkenntnis und der intrinsischen Beziehung von Prinzip und Konkretum führt auch hier jegliche konkrete Bestimmung eines Etwas als gut unausweichlich auf die Frage nach der Eigenbestimmtheit und somit auf die Prinzipien des Guten. Gesucht ist also der Begriff des Guten als der ursprünglich bestimmende Begriff in der Bestimmung eines jedweden Konkret-Ethischen und daher als seine geltungslogische Bedingung. II Als eine Satellitentheorie der Allgemeinen Evolutionstheorie (H. Mohr) begreift die Evolutionäre Ethik (=EE) den Menschen und seine Objektivationen als phylogenetische Produkte der Evolution. Sie unterliegen deshalb von Natur aus durchgehend dem natürlichen Zweck alles Lebendigen, d.i. der Maximierung der Gesamtfitness (inclusive-fitness). Gemäß dem originär empiristischen Versuch, grundlegende philosophische Fragen als genetische zu entfalten, versucht die EE mit Hilfe evolutionsbiologischer Einsichten ebenso die Grundbestimmungen des Moralischen zu klären. Als bloß natürliches Phänomen ist nach ihr auch die Moral biotisch bedingt. (2) Infolgedessen gilt es sie durch natürliche, und zwar von der Biologie bereitgestellten biotischen Gründe zu erklären. Diese Erklärung der natürlichen Bedingtheit menschlichen Verhaltens besteht darin, daß die EE konstante Muster und Gesetzlichkeiten im Sein des menschlichen Verhaltens als Erklärungsgründe aufdeckt und es auf diese Weise in Beziehung zu anderem Sein (Tatsachen, Gesetzmäßigkeiten) setzt. Wenn die Rede von so etwas wie Normierung in einem solchen Programm selbst begründet sein soll, kann dieser Grund offensichtlich nur im Sein und den determinierenden Seinsbestimmungen gefunden werden. Damit stoßen wir zunächst auf die seit Hume virulente Thematik des naturalistischen Fehlschlusses. Immerhin ist es logisch unzulässig aus einer noch so großen Menge von Seinsaussagen auch nur eine einzige Sollensaussage abzuleiten. Eine genetische Analyse, die das Sein mit Hilfe von anderem Sein erklärt, gerät bei der Frage nach dem Sollen gleichsam an ihre natürliche Grenze. Das liegt wesentlich daran, daß die Geltung menschlicher Objektivationen prinzipiell nicht auf Sein und Seinsbeziehungen reduziert werden kann. Mit anderen Worten: Gründe, die das Sein als die Objektseite der Geltung betreffen, dürfen nicht mit Gründen der Subjektseite, d.i. der Geltung selbst verwechselt werden. Schauen wir uns das genauer an! III Die empirischen Wissenschaften vom Sein bezwecken nicht das Sein, sondern Erkenntnisse und damit Begriffe (Urteile, Sätze, Theorien usw.) vom Sein. Zwar lassen sich durchaus seinsmäßige Bestimmungen am Begriff ausmachen, aber Begriffe zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, daß sie beanspruchen von Anderem, hier vom Sein, zu gelten. Erkenntnis ist demnach sowohl durch die Dimension des Seins (und seinen Implikationen) als auch durch die Dimension der Geltung (und ihren Implikationen) bestimmt. Nun garantiert das bloße Vorhandensein unserer Geltungsansprüche noch nicht schon ihre Geltung. Also stehen sämtliche menschlichen Objektivationen unter dem Gesetz der Geltungsdifferenz. Genau dieses Phänomen der Geltungsdifferenz macht den evolutionsbiologischen Versuch, menschliche Objektivationen nur als Seinsverhältnis zu begreifen, unmöglich. Immerhin unterscheidet sich das Sein gültiger Leistungen überhaupt nicht vom Sein ungültiger Leistungen. Vielmehr müssen diese sogar erst sein, damit überhaupt die Möglichkeit ihrer Gültigkeit besteht. Nicht durch ihr Sein, sondern durch ihre Beziehung auf einen Gegenstand, und damit durch ihren Gehalt, scheiden sich gültige von ungültigen Objektivationen. Als Wissen in direkter Gegenstandszuwendung erforschen die empirischen Wissenschaften zwar das Empirische, nicht aber die sachliche Geltung von Aussagen über das Empirische. Das empirische Seinsdenken, das immer auch gültig sein will, muß kraft seiner eigenen, methodisch vermittelten objektivistischen Gegenstandseinstellung hinsichtlich seiner eigenen Geltungsgrundlagen zuletzt also unbegründet bleiben. Aufgrund des ihm als Wissenschaft eigenen Begründungsstrebens darf es sich damit jedoch nicht zufrieden gebenabgesehen davon, daß damit das Problem der Geltungund der Geltungsdifferenz keineswegs adaequat behandelt wäre. Sofern das empirische Seinsdenken sich selbst als absolut begreift, somit die Geltung auf das, was es zum Gegenstand hat, d.i. das Sein, reduziert und, im Falle der EE, entsprechend auch biotische Seinsgesetze als ethische Sollensgesetze versteht, treten unverzüglich eine Vielzahl von Ungereimtheiten ans Licht: IV Wenn wir davon ausgehen, daß die Moralität der Gene (E.O. Wilson) unser Tun und Lassen vollständig bestimmt, dann folgt daraus selbstverständlich, daß es weder möglich noch notwendig ist, auf diesem Seinsgesetz ein ethisches Sollensgesetz zu gründen. Gerade zufolge der EE sollte das natürliche Verhalten eben als natürliches Verhalten auch keiner ethischen Begründung bedürfen. Idealiter stünde in einer wissenschaftlichen Biologie nicht das ethische Sollen, sondern das kausale Müssen zentral. Gerade ihre Wissenschaftlichkeit fordert eine radikale Enthaltung von jeglichem ethischen oder wertteleologischen Urteil und somit Gleichgültigkeit hinsichtlich des Entstehens und Vergehens der Arten. Deshalb hilft es ihr auch nicht, wenn sie die obige Annahme austauscht gegen diejenige, daß das menschliche Tun und Lassen sich nicht naturnotwendig nach der Moralität der Gene vollzieht. Zwar drängt sich jetzt die Frage nach einem intersubjektiv verpflichtenden Zweck, den wir anstreben sollen auf, aber jenen Zweck kann uns weder eine empirische Seinswissenschaft, noch eine an sie gebundene Ethik, wie die EE, begründet oder gar begründbar liefern. Denn ihrer methodischen Ausrichtung zufolge, stoßen sie immer nur auf natürliche, materiale und daher heteronome Zwecke. Sofern die Moraltheorie nicht bloß eine komparative Allgemeinheit (Kant) sucht, wie etwa das durchaus dominante Motiv des Strebens nach Selbsterhalt, sondern ein kategorisches, intersubjektiv verbindliches Sollen als höchstes Ziel der Menschheit, fordert sie einen nicht naturgegebenen Zweck und daher eine andere Auskunft als 'Sein'. Wegen ihrer objektivistischen Gegenstandseinstellung vermag die EE jedoch immer nur Gründe anzuführen, die sich auf der Objektseite der Geltung befinden und die als gültige Gründe nur dann angeführt werden könnten, wenn wir schon um ihre Geltung wüßten. Die in 1. gesuchte ursprüngliche Bestimmtheit des Guten als des Ethischen letztbestimmender Begriff und geltungslogische Bedingung dafür, daß etwas Gegebenes überhaupt als gut qualifizierbar ist, ist demnach nicht selbst in der direkten Gegenstandsbeziehung gegeben. Gerade aufgrund ihres irreflexiven Charakters können die empirischen Seinswissenschaften weder deskriptiv noch explanativ die von ihnen immer vorausgesetzte Eigenbestimmtheit letztbestimmender Begriffe reflexiv einholen, geschweige denn ihren Gebrauch legitimieren. Zugleich schließt die EE, ihrem objektivistischen Ansatz entsprechend, jenen Typus von Vernunft oder Subjektivität notwendig aus, die, zumindest dem Prinzip nach, fähig wäre, uns absolute Normen zu vermitteln. Denn die EE kann auch die Vernunft immer nur als biotisch bestimmtes Mittel zu einem biotisch bestimmten Zweck und damit naturalistisch als Sein unter anderem Sein thematisieren. Als Wissenschaft vom ethischen Sollen entpuppt sich die EE immer nur als Wissenschaft, die das menschliche Verhalten als naturwissenschaftliches Sein und Funktion von Seinsgesetzen antizipiert. V Die unumgängliche Begründung der Eigenbestimmtheit des Guten und damit echte Begründung ethischer Normen scheint also gemäß dem methodischen Ansatz der EE völlig unmöglich. So wundert es nicht, daß gerade einige ihrer herausragenden und konsequentesten Protagonisten sowohl die Möglichkeit der Begründung von Normen schlechthin als auch die Notwendigkeit absoluter Maßstäbe verneinen. (3) Solche Skepsis scheint zwar dem Zeitgeist durchaus zu entsprechen, sieht sich jedoch mit unüberwindbaren Schwierigkeiten konfrontiert: Mit ihrer Denaturalisierung der Geltung bringt die EE zum Ausdruck, daß die Erkenntnis ihrer Meinung nach hauptsächlich, oder gar ausschließlich von Seinsbestimmungen abhängig ist. Insofern lehnt sie eine unbedingte, von Realfaktoren unabhängige Wahrheit ab. Nun soll jedoch diese Behauptung nicht nur irgendein Produkt einiger seinsgesetzlich bestimmter evolutionärer Ethiker, sondern wahr sein. Folglich verlangt auch diese, selbst nicht bedingt, sondern universal wahre These von jenen gewissenhaften und auf ihre Wissenschaftlichkeit so pochende 'survival machines' (R. Dawkins) eine wissenschaftliche Begründung. Sobald sie jedoch versuchen ihren eigenen Geltungsanspruch zu rechtfertigen, bleibt ihnen keine andere Möglichkeit, als für die absolute Geltung sowohl der von ihnen als Beweis herangezogenen Gründe als auch der von ihnen in Anspruch genommenen Geltungsprinzipien einzutreten. Darüber hinaus müssen sie nicht weniger für sich als erkennende Wesen die Möglichkeit einer Bestimmung durch jene Geltungsprinzipien und daher die Möglichkeit einer Bestimmung durch nicht-Naturales einklagen. VI So scheint es nur recht, wenn die idealistische Philosophie schlicht verneint, daß Normen entweder biologisch bzw. objektivistisch oder überhaupt nicht begründet werden können. Das liegt nicht zuletzt daran, daß sie, anders als die empiristische Tradition, Begründung nicht bloß als empirische Nachprüfung, etwa mit Hilfe von impressions (Hume) oder Basissätzen (Popper), versteht. Philosophische Begründung erstreckt sich hier vielmehr auf die Möglichkeitsbedingungen von Empirie und empirischer Forschung selbst. Die Philosophie thematisiert daher nicht unmittelbar die Gültigkeit einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern befragt als Grundlagenforschung primär die Gültigkeit ihrer Voraussetzungen, die als 'Bedingungen der Möglichkeit' ihren jeweiligen Gegenstandsbereich abstecken. Weit entfernt davon, die Legitimation des einen konkreten, inhaltlich erfüllten Wissens durch einen anderen Erkenntnisinhalt anzustreben und letztlich als Organon materialer Absolutheit zu funktionieren, bietet insbesondere das wirkungsmächtige kantische Begründungsmodell eine prinzipien-theoretische Bestimmung der Möglichkeit, der formalen, geltungsnoematischen, strukturalen Bestimmtheit von Geltung. Als geltungsanalytische Lehre der Prinzipien der Geltung führt die von ihr vollzogene reflexive Rückbeugung vom empirischen Seinsdenken zum dafür maßgebenden Inbegriff von Geltungsprinzipien. Diese fungieren als Geltungsgrund des Geltenden und damit als die konstitutiven Bedingungen für das Denken des Seins wie auch für das Sein als Objekt des Denkens. Philosophische Begründung von Seinserkenntnis bedeutet hiernach die Aufdeckung und Begründung derjenigen Grundbegriffe und Grundsätze, auf deren Gültigkeit jegliche Seinserkenntnis zurückgreifen muß, wenn ihr Seinsdenken selbst gültig sein soll. Infolgedessen führt die Geltungsreflexion aus dem Bereich der Objekte in die Sphäre des Subjekts (auch mitthematisch als: Vernunft, Denken, Logos, Ich, Selbstbewußtsein usw.). Denn dieses ist hier als jener Inbegriff von Geltungsprinzipien gedacht. Als solcher Grund für die Gegenständlichkeit der Gegenstände oder Objektivität der Objekte ist es in der nicht-reflexiven, direkten Gegenstandszuwendung der empirischen Wissenschaften vom Sein unbefragt und unbefragbar. Dabei enthält der Subjektbegriff präzise jene Elemente, die den unter 1. gesuchten konkret-allgemeinen Begriff letztbestimmender Begriffe, ob des Wahren, Guten oder Schönen definieren. So handelt es sich, trotz der Allgemeinheit des Prinzips, beim Subjektbegriff um die notwendige und hinreichende Bedingung des Konkreten als Objektiviertes. Entsprechend ist das Subjekt als eine geltungslogische Entität und nicht, wie in einer Anthropologie naturalistischer Prägung, als Sein gefaßt. Als Inbegriff der Geltungsbedingungen des Geltenden muß es hinsichtlich der Geltung zugleich als absolut und unbedingt angenommen werden. Deshalb kann es freilich nicht mit dem konkreten Subjekt Mensch zusammenfallen. In bezug auf den Menschen läßt sich jenes reine Subjekt als Inbegriff von (unendlichen) Möglichkeiten begreifen, die im reinen Subjekt selbst begründet sind. Dieses gibt an, was das konkrete Subjekt prinzipiell sein kann und wie es bezüglich seiner Geltungsansprüche geltungsnoematisch strukturiert sein soll also nicht was es realiter ist oder unter bestimmten Umständen sein kann. VII Es ist die mit dem Menschssein unlöslich verbundene Würde, daß der Mensch sich, als das zu Normierende, durch jenen Prinzipieninbegriff als Normierendes zu bestimmen vermag. Deshalb muß der Mensch, trotz seiner Selbstvergessenheit in den empirischen Wissenschaften, in diesen sowohl als Subjekt als auch als Objekt auftreten. So eruiert etwa die Evolutionsbiologie die seinsmäßigen Bestimmtheiten des Menschen. Da aber auch die Evolutionsbiologie, ebenso wie die EE, nicht irgendwelche Leistungen, sondern gültiges Wissen vom Menschen erbringen will, ist der Mensch zugleich als Wesen in Anspruch genommen, das zwischen Gültigkeit und Ungültigkeit unterscheiden, die Prinzipien oder Kriterien für diese Unterscheidung wissen und sich durch jene Geltungsprinzipien bestimmen kann. Die Evolutionsbiologie und die EE setzen einen solchen Subjektbegriff zwar voraus, vermögen als Wissen in intentione prima et recta diese Voraussetzung jedoch nicht zu thematisieren oder gar zu begründen. Sie bleibt hier unbegründet und unbegründbar. Die kategoriale Differenz von Sein und Geltung involviert also die These der Doppelbestimmtheit des Menschen. Hinsichtlich seines empirischen Seins ist der Mensch als bestimmt durch die Gesetze des empirischen Seins gedacht. Um seine eigene Seinsbestimmtheit jedoch erkennen zu können, muß ihm die Fähigkeit eingeräumt werden, Erkenntnisse zu leisten und sich daher nach den Prinzipien der Erkenntnis zu bestimmen. Hinsichtlich seines Subjektcharakters ist der Mensch demnach als konstitutiver, nicht-seinsmäßiger Grund möglicher Geltung begriffen. Infolge der aufgewiesenen Irreduzibilität der Geltungs- und der Seinsdimension können jene Prinzipien der Geltung unmöglich Ergebnis einer seinsmäßigen, phylogenetischen Entwicklung sein. Mithin kann es nur mißlingen, die Differenz zwischen Gültigkeit und Ungültigkeit als Funktion einer Maximierung der Gesamtfitness zu explizieren. So ist der Gedanke einer objektiven Differenz von Gültigkeit und Ungültigkeit aufgegeben und die EE behauptet entweder dogmatisch ihre eigene Gültigkeit oder sie bleibt schlichtweg unbegründet. Zwar muß die Möglichkeit der Selbstbestimmung im menschlichen Denken, Tun und Lassen infolge der biologischen Gegenstandseinstellung als eine kollektive genetische Illusion (M. Ruse) erscheinen; aber analog dem Sachverhalt innerhalb des Theoretischen eignet dem Menschen auch in praktischer Hinsicht die Fähigkeit, die Universalität biotischer Seinsgesetze zu negieren. Den auf Seingesetzen gegründeten Normen für das Wollen und Handeln kommt deshalb nur eine hypothetische Geltung zu. Sie gelten unter dem schon vorausgesetzten Zweck des Lebenwollens des konkreten Subjekts. Deshalb ist es immer menschenmöglich die Relativität und Partikularität solcher Seinsbestimmtheit zu durchschauen, ihren Geltungsbereich einzugrenzen und den ethischen Prinzipien unterzuordnen. VIII Das alles heißt freilich nicht, daß unser konkretes, wirkliches Erkennen, Wollen und Handeln nicht von Seinsbestimmungen bedingt ist. Aber solche Seinsbedingtheit gewinnt erst an philosophischer Relevanz, wenn nicht die Geltung des Geltenden, sondern die Verwirklichung der Geltung in den Vordergrund rückt. Diese ist zweifelsohne von einer Vielzahl von, auch basal-biotischen, Seinsbestimmungen abhängig. Die sachliche Geltung dagegen, etwa des Ethischen, ist, anders als die durchaus biotisch bestimmten Interessen des konkreten Lebens, nicht von Seinsbedingungen, sondern von den ethischen Geltungsprinzipien abhängig. Als seine prinzipielle, strukturale Bestimmtheit fungieren sie als das ewig und invariant Gültige in allem konkret und historisch realisierten Ethischen. Aus der Abhängigkeit der Geltungsverwirklichung von Seinsbedingungen folgt allerdings nicht, daß diese als Randbedingungen einer realistischen Ethik zu verstehen sind. Vielmehr betrachtet in solcher Einschätzung die EE das Ethische nur unter pragmatischen Gesichtspunkten der Realisierbarkeit oder Durchsetzbarkeit. (4) Dementsprechend muß sie das Ethische als heteronom, als Mittel zu einem selbst nicht mehr ethisch zu rechtfertigenden Zweck konzipieren und gerät dabei in Gefahr, wiederum die immer vorausgesetzte Eigenbestimmtheit des Ethischen zu verfehlen. Empirische Erforschung faktischer menschlicher Verhaltensdispostionen bedeutet noch nicht die Begründung ihrer ethischen Geltung. Dazu müßten jene Dispositionen selbst in bezug auf die nicht-biotischen Geltungsprinzipien des Ethischen beurteilt werden. Kurz: Die Rede von den Randbedingungen verwechselt erneut Geltung und Genesis. Die Randbedingungen einer Ethik als Ethik werden nicht von Seinsbedingungen, sondern von den ethischen Geltungsprinzipien definiert. Diese zeigen die grundlegenden Bestimmungen des Ethischen als dessen Eigenbestimmtheit an. Weil die EE nur naturwissenschaftliche Erklärungen phylogenetisch entwickelter Verhaltensdispositionen bereitstellen kann, muß der Wert ihrer Erklärungen für die ethische Grundlehre als ziemlich gering eingeschätzt werden. Keine originäre und selbständige wissenschaftliche Ethik kann ihre Aufgabe so erfüllen, daß sie die Seinsbedingungen für etwas angibt, wovon sie prinzipiell keinen begründbaren Begriff bilden kann. Die oben kritisierte sogenannte Wurzelthese (K. Bayertz) der EE analysiert also nicht die Genese der Moral. (5) Sie profitiert vielmehr davon, daß das Wollen und Handeln des von biotischen Seinsgesetzen durchwalteten Lebewesen Mensch immer auch objektbestimmt ist und vermittelt eindringlich, daß diese Objektbestimmtheit zunächst als Funktion der Existenzerhaltung begriffen werden kann. Die ersten Ziele, die wir nachstreben, werden hiernach von unseren natürlichen Lebensbelangen diktiert. Nun haben wir schon gesehen, daß der Mensch zwar als endliches, aber dennoch als Vernunftwesen gedacht werden muß. Demzufolge wird sein Wollen außer von einem Objekt ebenso von handlungsmotivierenden Regeln bestimmt. Diese fungieren als das bestimmende Allgemeine in einer je konkreten, nicht bloß instinkthaften, Handlung. Solche Regeln sind zwar Produkte unserer praktischen Vernunft, aber gewiß zunächst auf unsere Lebensbelange abgestellt. Nun unterliegen allerdings auch jene, für den menschlichen Willen maßgebenden Regeln dem Gesetz der Geltungsdifferenz. Abgesehen davon, daß sich jetzt die Frage nach den Prinzipien oder Kriterien zur Unterscheidung ethisch gültiger von ungültigen Regeln aufdrängt, wird erneut offenbar, daß die Moralität einer menschlichen Objektivation durch ihren Bezug auf jene ethischen Geltungsprinzipien qualifiziert ist und nicht durch ihre Seinsbestimmtheit oder ihre Seinsfolgen. Sie kann also nicht, wie es die empiristisch verwurzelte Auffassung der EE will, als Objekt, hier: als Funktion der Fitnesserhöhung, adaequat bestimmt werden. Infolge der in philosophischer Hinsicht entscheidenden Trennung von Sein und Geltung liegt es also nahe, die Ethik, zumindest in ihrer Grundlehre, immer nur als ideale Ethik und nicht als seinsmäßig zu erforschendes faktisch existierendes System von Normen und Werten zu begreifen und zu entwickeln. Weil jene ideale Moral nicht in der Seinssphäre beheimatet ist, hat sie demzufolge auch keine biotischen Wurzeln und kann mithin auch nicht in biologischen Begriffen wie etwa dem der Fitnessmaximierung verstanden werden. Vielmehr fehlen der EE, bildlich gesprochen, lebenswichtige funktionale Fähigkeiten, über deren Folgen sie sich nach den Gesetzen der natürlichen Selektion selbst am besten belehren kann. |
Notes (1) Vgl. zu dieser Beziehung von Prinzip und Konkretum ausführlicher etwa Hartmann, N. (1964), Der Aufbau der realen Welt: Grundriss einer allgemeinen Kategorienlehre, 3. Aufl., Berlin; Wagner, H. (1980), Philosophie und Reflexion, 3. unver. (1. Aufl. 1959), München/Basel und Flach, W. (1994), Grundzüge der Erkenntnislehre. Erkenntniskritik, Logik, Methodologie, Würzburg. (2) Das ist auch nach K. Bayertz der harte Kern der EE in der Mannigfaltigkeit ihrer Ausprägungen ders. (1993b:328), Autonomie und Biologie, in: K. Bayertz [Hrsg.], Evolution und Ethik, Stuttgart, 327-360 und (1993c:144), Der evolutionäre Naturalismus in der Ethik, in: W. Lütterfelds [Hrsg.], Evolutionäre Ethik zwischen Naturalismus und Idealismus, Darmstadt, 141-165. (3) Vgl. etwa die leicht greifbaren und programmatischen Aufsätze von Vollmer, G. (1993), Möglichkeiten und Grenzen einer evolutionären Ethik, in: K. Bayertz [Hrsg.], Evolution und Ethik, Stuttgart, 103-132, und Ruse, M. (1993), Noch einmal: Die Ethik der Evolution, in: K. Bayertz [Hrsg.], Evolution und Ethik, Stuttgart, 153-167. (4) Vgl. dazu etwa Bayertz, K. (1993a:26), Evolution und Ethik. Größe und Grenzen eines philosophischen Forschungsprogramms, in: K. Bayertz [Hrsg.], Evolution und Ethik, Stuttgart, 7-36; Vollmer, G. (1993:126) oder Vogel, C. (1993:215), Soziobiologie und die moderne Reproduktionstechnologie, in: K. Bayertz [Hrsg.], Evolution und Ethik, Stuttgart, 199-220. (5) Vgl. für die dieser Studie zugrunde liegende Kategorisierung der EE in drei Varianten oder Thesen auch Bayertz, K.(1993a:24ff.), ders. (1993c:146ff.) und Collier, J./Stingl, M. (1993:48), Evolutionary Naturalism and the Objectivity of Morality, in: Biology and Philosophy, 8 (1993), 47-60. |