Wissenschaft des Judentums als Ausgangspunkt für unser Gespräch
Einführende Bemerkungen von Michael Zank

 

"Ist das wirklich noch nötig?" -- so wird man gelegentlich gefragt, wenn die Rede auf die Wissenschaft des Judentums kommt. Und zwar nicht, wenn diese, wie es vielfach geschieht, als historische Etappe erwähnt wird, die wir ja wohl nun endgültig hinter uns zu lassen hätten, sondern wenn es jemandem einfällt, sich den Quellen dieser jüdischen Wissenschaftstradition noch einmal mit der Absicht zu nähern, aus diesen einen positiven Inhalt oder gar Inspiration zu schöpfen. Brauchen wir also wirklich noch die von den deutschen Juden des 19ten Jahrhunderts ausgekochte Wissenschaft des Judentums? Steckt in dieser mehr als eine Episode, die sich weder geschichtlich einholen läßt, noch auch irgendetwas in sich birgt, das zu einem solchen Einholungsversuch einladen würde?

Was sich einem solchen Vorhaben in den Weg stellt, sind nicht bloß Vorurteile, die mit kompetenter und ausdauernder Überzeugungsarbeit abzubauen wären. Vielmehr muß hier ein Selbstzweifel benannt und überwunden werden. Das Vorurteil gegenüber der Wissenschaft des Judentums als einer mehr als historisch interessanten Episode speist sich aus der Auffassung, sie sei der Ausdruck einer umfassenden assimilatorischen Bewegung des deutschen Judentums, deren Sinn nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso selbstverständlich geleugnet wird, wie er bis um die vorige Jahrhundertwende für die meisten Juden außer Zweifel stand. Damit gilt nicht nur die tausendjährige Geschichte des deutschen Judentums als ein abgeschlossenes Kulturphänomen, sondern ganz besonders deren Ideologie gilt als erledigt. Das jüdische Leben in Deutschland und Europa nach der shoah gilt den meisten als eine mit dessen Vorgänger nur lose verbundene Erscheinung. Somit steht aber nicht nur der geistige Ertrag der Arbeit mehrerer Generationen in Frage, sondern die wachsende Arbeit judaistischer Forschung und jüdischen Lebens in deutscher Sprache sind gewissermaßen heimatlos.

Da zudem die Wissenschaft des Judentums in den wichtigsten ausserdeutschen Zentren jüdischer Wissenschaft weiterlebt, die sich in Kontinuität mit den einstmaligen Einrichtungen des Breslauer jüdisch theologischen Seminars und der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin verstehen (man denke hier nur etwa an das Jewish Theological Seminary in New York und an die Hebräische Universität in Jerusalem), scheint es dem Projekt der Wissenschaft des Judentums eigentlich an Nachfolgern gar nicht zu ermangeln. Wenn demgegenüber dennoch immer wieder Kritik an der Wissenschaft des Judentums geäussert wird, so drückt sich hierin ein Unmut über die weitgehende Historisierung der jüdischen Wissenschaften aus, wie sie etwa bei der Association for Jewish Studies und beim judaistischen Weltkongress vorherrscht.

Wie verhält sich nun diese, wie gesagt: heute vielfach kritisierte, Wissenschaftstradition zur ursprünglichen Wissenschaft des Judentums einerseits und zur neuen Judaistik in deutscher Sprache andererseits? Und was haben diese mit dem jüdischen Leben in deutscher Sprache zu tun?

Hier setzt nun der Beitrag Dieter Adelmanns ein, den Sie in dieser ersten Ausgabe der deutschsprachigen Diskussionen von textual reasoning finden. Dieser Gesprächseinstieg soll nicht dazu dienen, die möglichen Einsprüche gegen eine Wiederanknüpfung an die Wissenschaft des Judentums vom Tisch zu wischen. Vielmehr läd er dazu ein zu bedenken, was der europäisch humanistischen Kultur eigentlich mit der gewaltsamen Verdrängung der Juden und ihrer Wissenschaft aus dem deutschen Sprachbereich abhanden gekommen ist. Das ist keine Flucht in die Repristination sondern kritische Arbeit am europäischen Menschen, wie sie für Juden und Nichtjuden heute relevant sein sollte.

Dieter Adelmann ist der Überzeugung, daß das Nachleben der Wissenschaft des Judentums in der heutigen Judaistik nicht ganz vollständig ist. Vielmehr sind viele, gerade auch philosophisch und hermeneutisch wichtige Anregungen in Vergessenheit geraten, die dann über den Umweg mancher Epigonen erst wieder mühsam erinnert werden müssen. Damit steht aber die Kontinuität der Wissenschaft, die sich vorhin so leicht angeben ließ, nun doch gerade dort in Frage, wo vielleicht ihre tiefsten Erträge liegen.


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Wissenschaft des Judentums und Reformation.
Eine Gesprächsanregung von Dieter Adelmann

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