Michael Zank

Gotteslästerung und Profanierung des Namens in katholischer, protestantischer und jüdischer Tradition. Weitere Thesen

1. Gotteslästerung in der lateinischen Tradition[1]

a)         In der römisch-katholischen Tradition bedeutet Blasphemie einen Bruch im Verhältnis des Menschen, und zwar des bereits erlösten Menschen, zu dem Gott, dem er seine Erlösung verdankt. Nach katholischer Lehre ist die Blasphemie daher eine Todsünde, durch die sich der einzelne Gotteslästerer, in der Moderne aber auch geradezu die gesamte gotteslästerliche Gesellschaft, den verdienten Zorn Gottes zuzieht.
b)        Die wechselhafte Auslegungs- und Mentalitätsgeschichte der Sünde der Gotteslästerung ist von einer gewissen Aussagekraft für die Geschichte des katholischen Christentums überhaupt. Denn die Gotteslästerung ist nicht nur eine private Angelegenheit, sondern etwas, das zumeist vor Zeugen stattfindet und somit die Gestaltung des öffentlichen Lebens in der christlichen Gesellschaft betrifft. Somit kann man aus der Geschichte der Blasphemie etwas über die Beziehungen von Beicht- und Rechtspraxis, von kirchlicher und weltlicher Obrigkeit und von Kirche und Gesellschaft lernen.
c)         Die katholische Theologie leitet die Sünde der Gotteslästerung vom (nach christlicher Zählung) Zweiten Gebot ab, in dem es heißt: “Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht mißbrauchen; denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht.” Das Verbot der Gotteslästerung richtet sich dabei auf den bereits im Bund der Versöhnung stehenden, erlösten Menschen, an dem das Werk Christi wirksam geworden ist. Der Mißbrauch des Namens Gottes und seines Erlösungswerks durch Sprachhandlungen wie Fluchen, Verwünschung und Meineid wird daher mit der einzigen unverzeihlichen Sünde, der Sünde wider den Heiligen Geist, in Verbindung gebracht.
d)        Die Blasphemie im Sinne einer Beschimpfung Gottes, der Heiligen, der Erlösung oder der Kirche überhaupt bzw. die Verleumdung des Göttlichen als des Dämonischen, steht einerseits in Beziehung mit der gnostischen Zweigötterlehre und deren Verteufelung. Sie hängt aber auch mit der sowohl im lateintischen als auch im orthodoxen Christentum verbreiteten Vorstellung von der satanischen Ursünde zusammen, die aus der im Mittelalter überaus weit verbreiteten Vitenliteratur bekannt ist, also aus dem Leben Adams und Evas. Die Verleumdung Gottes ist also in Kontinuität mit dem Satanischen überhaupt und gilt als Ausdruck einer vom Teufel beeinflußten Gesinnung. Von hier aus wird auch die traditionelle Haltung der katholischen Tradition gegenüber den Juden verständlich. Diese gelten nicht nur als Gottesmörder sondern als Gotteslästerer, deren Perfidie gerade darin besteht, es besser zu wissen und dennoch Gottes Offenbarung in Christus zu leugnen. Also auch hierdurch entsteht eine Verbindung zwischen den Juden und deren “Vater,” dem christlichen Teufel.
e)         Im Unterschied zu den praktisch-seelsorgerlich orientierten Beichthandbüchern, in denen die Sünde der Gotteslästerung behandelt wird, findet sich die Gotteslästerung in der Theologie der Hochscholastik vor allem als Gedankensünde, und zwar im Zusammenhang der Gotteslehre. Hierunter versteht man die Verneinung alles dessen, “was Gottes ist”, bzw. die Unterstellung von etwas, “was ihm gar nicht gebührt”. “Der verbale Ausdruck” bzw. “die  Beschimpfung” erscheint hier dagegen als nur “affektive(s) Element”.[2]
f)           Die mentalitätsgeschichtliche Differenz zwischen Vormoderne und Moderne läßt sich hinsichtlich der Gotteslästerung folgendermaßen bestimmen. Das Fluchen erkennt noch die Gewalt des Gottesnamens an, vollzieht also einen Bruch mit dem Göttlichen im Wort, ohne jedoch das religiöse Weltbild in Frage zu stellen. Der moderne Atheismus, der sich zunächst im Adel verbreitet , zeichnet sich jedoch eher durch Handlungen aus, die sich jedoch nur durch die nachträgliche theologische Interpretation als gotteslästerlich bezeichnen lassen. Zu einer solchen “gotteslästerlichen” Handlung gehört vor allem die sich in der säkularisierten Gesellschaft immer weiter durchsetzende Sonntagsentheiligung, die als Zeichen einer atheistischen Gesinnung gedeutet und bekämpft wird.
g)        Auch in der Geschichte der Kreuzzüge und der Inquisition spielte die Blasphemie eine Rolle. Die gewaltsame Befreiung der heiligen Städten von den Ungläubigen stellte einen Kampf gegen eine fortdauernde Blasphemie dar. Ebenso handelte es sich bei der Inquisition auf der iberischen Halbinsel um ein Aufspüren heimlicher Gotteslästerung unter den zuvor zwangskonvertierten Juden und Muslimen. Besonders in der Geschichte der Inquisition spielte wohl erstmals auch die Denunziation eine besondere Rolle.
h)        Der Antimodernismus der Papstkirche im 19ten und frühen 20sten Jahrhundert rechtfertigt sich aus katholischer Sicht als Kampf gegen die in der christlichen Gesellschaft um sich greifende Gotteslästerung. Dabei können ganz verschiedene Verhaltensweisen und Kulturerscheinungen als gotteslästerlich bezeichnet werden.
i)           Entscheidend für die Wandlungen im katholischen Blasphemieverständnis ist das Verhältnis der Kirche zur weltlichen Autorität bzw. die historischen Voraussetzungen dieses Verhältnisses, d.h. einerseits die Konstantinische Wende im Altertum und andererseits der Verlust des kirchlichen Einflusses über die weltliche Autorität, d.h. das Ende des Konstantinischen Zeitalters. Für die frühe Kirche war der Vorwurf der Gotteslästerung noch Sache des Kampfes gegen die Mehrheit und deren Unglauben. So erscheinen von Anfang an die Juden als die eigentlichen Gotteslästerer, eine wohl deshalb geschürte Auffassung, weil die Juden, jedenfalls aus der Sicht der Evangelien, den christlichen Erlöser für einen Verfluchten und einen Gotteslästerer hielten. Seit Konstantin ermöglichte es der weltliche Arm der Kirche, das religiöse Fehlverhalten bzw. die Heterodoxie/praxie zur gesetzlich strafbaren Handlung zu machen. In der Moderne macht der christliche bzw. nachchristliche Staat die mancherorts verbleibende Gesetzgebung, die die Gotteslästerung oder Verächtlichmachung der Religion und ihrer Repräsentanten unter Strafe stellt, de facto unwirksam. Seither (also besonders seit der Französischen Revolution) verbleibt daher meist nur noch die Möglichkeit, den Zorn Gottes in Predigten auf die gottlose bzw. feiertagsentheiligende christliche Gesellschaft herabzurufen. [Voraussetzung: Sakramentsverständnis, d.h., ex opere operato ist der getaufte Christ für seine Handlungen vor Gott als Christ verantwortlich.] Folge der unmittelbaren Machtlosigkeit ist es, daß der kirchlichen Predigt und Pamphletenliteratur das gesellschaftliche Elend, also das Leiden und Unglück durch Erdbeben, Seuchen, Krieg und Revolution, als Zeichen des göttlichen Zorns gilt. Manchmal nimmt diese Deutung der Zeitläufte auch ausgesprochen apokalyptische Züge an.
j)           Die wohl wichtigste Rolle, die die Blasphemie im katholischen Bereich über die Jahrhunderte spielte, betrifft den Bereich der Verbesserung der Sitten unter den sozial Randständigen, d.h. vor allem unter den Soldaten, Matrosen und Tagelöhnern. Der Kampf gegen die Blasphemie war über die Jahrhunderte vor allem ein Kampf gegen die schlechten Sitten unter Männern, die sich dem Einfluß der christlichen Kirche entzogen, besonders als Kampf gegen das Fluchen und die Gewalt im häuslichen Bereich oder in Wirtshäusern.[3]

 

2. Protestantismus und Blasphemie

a)         Die Abschaffung der Ohrenbeichte hatte zur Folge, daß fortan kein kirchlicher Ort mehr bestand, an dem die Blasphemie, vor allem in Form der blasphemischen Gedankensünde, zur Bearbeitung kommen konnte.
b)        Ein Unterschied zwischen Luthertum und reformierter Tradition besteht darin, daß man im Luthertum zur Trennung der geistlichen von der weltlichen Gewalt neigt und so der Möglichkeit Vorschub leistet, unterschiedliche Maßstäbe anzulegen. Im Gegensatz hierzu neigt v.a. der Calvinismus zu einer kirchlichen Vergesetzlichung der öffentlichen Ordnung. So kommt es bekanntlich besonders im calvinistisch geprägten Puritanismus Neuenglands noch im 18ten Jahrhundert zu öffentlichen Hexenverbrennungen.
c)         Im Zeitalter des Konfessionalismus kommt es zu gegenseitigen Verwerfungen ganzer Kirchen als blasphemisch, besonders im dogmatischen und amtstheoretischen Streit um das Abendmahlsverständnis. Diese Tatsache dient der Beobachtung Voltaires als Erfahrungswert, wenn er die Blasphemie inhaltlich für konventionell erklärt (“Was in Rom oder in Loreto als Blasphemie gilt, wird in London, Amsterdam, Berlin oder Kopenhagen als Frömmigkeit betrachtet.”)  Die gegenseitige Verteufelung der Konfessionen trägt also nicht unwesentlich zum Verfall der politischen Autorität der kirchlichen Lehre bei.
d)        Sowohl im katholischen wie auch im protestantischen Bereich emanzipiert sich nicht nur die Staatstheorie sondern auch die Jurisprudenz von der kirchlichen Blasphemielehre (etwa ab 1740 nachweisbar). Eine bedeutende Rolle spielt dabei die Berufung auf mildernde Umstände (z.B. Trunkenheit, Ungelehrtheit, jugendliche Unerfahrenheit, usw). Hierbei vollzieht sich der Versuch, eine von der Theologie unabhängige Rechtskultur zu entwickeln und zu pflegen.[4]
e)         Im Bereich des Protestantismus spielt die Beschuldigung der Blasphemie seit der Mitte des 17ten Jahrhunderts eine Rolle bei den Zensurbehörden.[5] D.h., wer in seinen Schriften Lehren verbreitet, die der herrschenden protestantischen Lehre widersprechen, wird je nach dem Grad seiner Verstocktheit entweder mit dem Tod oder mit einer Gefängnisstrafe bestraft.

3. Hillul Haschem-Profanierung des Heiligen Namens in der rabbinischen Tradition

a)         Die Eigenart des christlichen Blasphemieverständnisses wird erst dann wirklich deutlich, wenn man sie mit nichtchristlichen Verständnissen der Gotteslästerung vergleicht. Zu einem solchen Vergleich eignet sich besonders das rabbinische Judentum. Ich betone das “rabbinische” aus folgendem Grund. Der christliche Glaube und die christliche Lehrtradition, mithin die christliche Tradition, entwickelt sich im Zusammenhang mit einem bestimmten Verständnis der biblischen Literatur, dem Alten Testament. Man kann das Neue Testament ohne diesen Hintergrund nicht verstehen. Die Schrifttradition auf die sich die Urchristenheit beruft, unterscheidet sich aber nicht etwa nur in der Interpretation von der des rabbinischen Judentums sondern schon in der Schrift selbst. Denn das Neue Testament ist die Schöpfung des vorwiegend griechisch sprechenden, aus Juden- und Heidenchristen gemischten Christentums, das sich von der ursprünglichen Gruppe um Jesus und dessen Bruder Jakobus kulturell bzw. linguistisch unterscheiden läßt. Nicht nur der Autor des Johanneischen Schrifttums, sondern bereits Paulus repräsentiert ein Judentum, das die griechische Übersetzung der Torah (LXX) und die mit dieser verbundene Auslegungstradition- und Techniken (vor allem die Allegorese) voraussetzt. – Im rabbinischen Judentum setzt sich dagegen das aramäisch und neuhebräisch, vorwiegend mündlich tradierende pharisäische Judentum durch, eine Tradition, deren Kultur eine gewisse Kenntnis der griechischen Sprache zwar einschließt, die Weisheits Griechenlands aber bewußt ablehnt. Dabei ist aber nicht nur die polemische Auseinandersetzung mit dem Hellenismus und mit den zeitgenössischen jüdischen Sekten und politischen Ereignissen konstitutiv sondern eigene Rechts- und Weisheitstraditionen, die wiederum nicht auf einer buchstäblichen Auslegung der Schrift beruhen, sondern unabhängig von dieser formuliert werden kann. Die Betonung der Mündlichkeit dieser Tradition (trotz deren Verschriftung in Mishnah und Tosephta) stellt womöglich den Ausdruck einer Kritik gegen die Schriftbezogenheit der sadduzäischen Elite dar.[6]
b)        In der rabbinischen Tradition leitet sich der Begriff des hillul haschem (“Profanierung des NAMENS”) nicht aus dem nach rabbinischer Zählung dritten Gebot ab, sondern aus der Zeugenschaft Israels vor den Völkern. Entsprechend geht es hier nicht spezifisch um das Fluchen sondern darum, ob Israel aufgrund seines Wandels den umliegenden Völkern den Anlaß gibt, den Namen Gottes zu heiligen oder die Existenz bzw. die Macht YHWHs zu leugnen. Israel ist also als Gesamtheit verantwortlich dafür, ob die anderen Völkern die Wirklichkeit des Gottes Israels erkennen können oder nicht.
c)         Dieser Begriff der Profanierung des Namens unterscheidet sich grundsätzlich von dem entsprechenden christlichen Begriff. Natürlich gibt es im Alten Testament die oft (und auch von Häring[7] zitierte) Steinigung des Sabbatschänders, d.h., die unmittelbare, von menschlicher Gerichtsbarkeit abhängige Bestrafung der religiösen Tabuverletzung. Allerdings werden bereits im rabbinischen Judentum explizit genau diejenigen Gedanken der modernen Jurisprudenz antizipiert, die es de facto unmöglich machen, eine menschliche Bestrafung der Gotteslästerung durchzuführen.[8]
d)        Die jüdische Tradition weist daher zunächst einen völlig anderen Begriff der Gotteslästerung auf, der in der Taxonomie des Judentums eine andere Stelle einnimmt als der christliche Begriff im Christentum. Beim christlichen Delikt handelt es sich um ein Delikt des Einzelnen, beim jüdischen um ein Delikt der Gemeinschaft. Im christlichen Bereich handelt es sich zumeist um eine Unsitte auf sozialem Hintergrund, im jüdischen dagegen handelt es sich um ein sozusagen regulatives Prinzip für das Verhältnis der gesamten Gemeinschaft Israels zur nichtjüdischen Umgebung.
e)         Aus einem Interview mit Avi Saguy[9] geht hervor, daß dieses Verständnis des Anlaßgebens zur Profanierung des Namens des Heiligen Israels bis heute eine wichtige sozialpsychologische Rolle spielen kann. Die rabbinische Religion sieht Israel aufgrund seiner Erwähltheit in einem Abhängigkeitsverhältnis von den umliegenden Völkern, bei dem—im Gegensatz zur lacrymosen Historiographie des neunzehnten Jahrhunderts—die Initiative nicht bei den Völkern sondern bei Israel selbst liegt. Ob die Völker den Gott Israels als Gott erkennen, hängt vom Wandel Israels ab, und zwar als negative Bedingung: Israels Sünde kann die Gotteserkenntnis der anderen verhindern. Erst im neunzehnten Jahrhundert wird dies zur Grundlage einer positiven “Mission” der Juden unter den Völkern. Ursprünglich ging es wohl eher darum, den Ernst der mosaischen Gesetzgebung für die Israeliten selbst einzuschärfen.
f)           Die Pointe des Interviews mit Saguy[10] ist es, den modernen säkularen Staat als den Ausdruck jüdischer Verantwortung vor den Völkern zu deuten und so die ultraorthodoxe Minderheit sozusagen auf ihrem eigenen Feld zu schlagen. Der Anlaß und die Rechtfertigung hierzu stammen also ursprünglich aus dem orthodoxen Bereich, nämlich aus der Tradition des Rav Kook.[11]
g)        Wir kommen daher nicht zufällig auf dem Umweg über den jüdischen Begriff der Profanierung des Namens auf das schwierige Gebiet der Heiligung des Profanen bzw. der Übertragung religiöser Funktionen auf die säkularisierte Gesellschaft bzw. auf den säkularen Staat. Dieses Phänomen existiert nicht nur im Zionismus sondern ist Teil des modernen Staates überhaupt. Daß wir auf dieses Problem auf dem Umweg über das Judentum stossen, ist deshalb nicht zufällig, weil sich gerade im europäischen Christentum, vor allem in der protestantischen Welt, Säkularisation durchaus nicht einfach oder überall als radikale Trennung von Kirche und Staat vollzogen hat, sondern vielmehr als eine neue Vermischung verschiedener Elemente aus allen Traditionen, die hier mithineinspielten und sich in verschiedenen Bereichen wie Recht, Bildung, Verwaltung, Wirtschaft, Religion usw. unterschiedlich ausprägten. Ebenso ist der moderne, religiöse Zionismus ja auch nicht etwa eine einfache Rückkehr zum biblischen Präzedenzfall, sondern eine Mischung aus jüdischen und europäischen Faktoren, die allerdings einen völlig anderen Zugang zum biblischen Erbe voraussetzt als die christliche Moderne.
h)        Nebenbei sei hier an die Rolle des Alten Testaments im Kampf der Frühaufklärung um die Gedankenfreiheit erinnert. Das Alte Testament, gegen das sich dieser Kampf richtet, ist vor allem das Alte Testament der christlichen Auslegungstradition, wobei die scheinbar traditionell antijudaistische Rhetorik schwerlich die antiklerikale Pointe der Sache verhüllt, was den damaligen Zensoren natürlich nicht entging. Ich denke hier besonders an den Tractatus theologico-politicus Spinozas.[12]
i)           Daneben gibt es im Judentum aber auch eine dem katholischen Verständnis näher liegende Variante der Bemühung um eine Überwindung der Gotteslästerung. Wie im modernen Katholizismus handelt es sich dabei zunächst um den Kampf gegen die Entheiligung des Sabbat und gegen die Nichteinhaltung der Speisegebote, mithin also um eine Abweichung von der Norm der Gebote der Torah als konstitutiv für die jüdische Lebensführung.[13] Der Beispieltext (vgl. die vorherige Fußnote) ist deshalb relativ milde, unpolemisch und ohne Hinweis auf gesetzlichen Zwang, weil er die Perspektive der Diasporah repräsentiert. Deutlich ist auch hier der Unterschied zwischen der katholischen Predigt, die die Sünder verdammt und das Gericht Gottes auf sie herabwünscht, und der kasuistisch abgestuften, fast theoretischen Diskussion über die Verantwortung des Einzelnen für die Ermahnung des gewohnheitsmäßigen Sabbatübertreters. Genau genommen gehört dieser Text in den Zusammenhang des Umgangs der “Konfessionen” miteinander, wobei sich die jüdischen “Konfessionen” (welches sie nicht im eigentlichen Sinne sind), durch Grade der Säkularisierung der durch das Religionsgesetz geregelten Bereiche unterscheiden. Hierzu gibt es kein genaues christliches Gegenstück.
j)           Der Unterschied der jüdischen von der katholischen Tradition hinsichtlich der Gotteslästerung beruht vor allem auf der jeweils unterschiedlichen Gewichtung von Wort und Handlung. Das Judentum wird gerne als “undogmatische” Religion bezeichnet, und zwar nicht, weil es keine Dogmen besitzt, sondern weil es kein bindendes Bekenntnis gibt, das für das Judesein des Einzelnen konstitutiv wäre. Daher besteht in psychologischer Hinsicht nicht der gleiche Anreiz zum Fluchen. Gott wird von den Juden vielmehr bei jeder Gelegenheit gesegnet. Das Hauptproblem beim Gebet ist daher auch nicht der gotteslästerliche Gedanke sondern der Mangel an Aufmerksamkeit, d.h., die Ablenkung vor allem sexueller Art. Gegen diese Erscheinung gibt es die den Beichtspiegeln entsprechende Literatur von Anweisungen und Übungen zur Konzentration auf das Göttliche beim Aussprechen der (trotz prinzipieller Oralität, d.h. Veränderbarkeit) festgelegten und sich immer wiederholenden Gebetstexte.
k)        Auch die Möglichkeit, Göttliches und Dämonisches miteinander zu vertauschen, die uns bereits in der katholischen Blasphemielehre begegnet war, gibt es in der jüdischen Religion. Hierbei handelt es sich, abgesehen von volksreligiösen Erscheinungen des Dämonenglaubens, um etwas, das gerade den Mystikern zum Anlaß von fruchtbaren mythologischen Spekulationen geworden ist. So wird ganz im Sinne des strengen prophetischen Monotheismus eines Deuterojesajah (vgl. Jes 45) von den Kabbalisten des 13ten Jahrhunderts die Strafgerechtigkeit Gottes als die “linke” oder “andere Seite” Gottes bezeichnet, die dunkle Seite also, die in der vielfach differenzierten inneren Welt Gottes dann die Überhand gewinnt, wenn die Mehrheit der Juden auf Erden die Gebote nicht recht oder nicht mit der rechten Intention erfüllen. Neben dieser Dämonie Gottes, die allerdings nicht als gotteslästerlich gilt sondern vielmehr Teil des göttlichen Geheimnisses darstellt, kennt die Mystik der frühen Neuzeit (Safed, 16-18. Jhdt.) auch die Möglichkeit die Rettung der Lichtfunken aus der Finsternis durch einen Übergang des Menschen auf die “andere Seite” zu beschleunigen. Das bekannteste Beispiel hierfür sind der falsche Messias Schabbtai Zvi, der zum Islam übertrat, und die polnische, katholisierende Sekte der Frankisten, die eine zeitlang in Offenbach am Main residierten. Gershom Scholem sah übrigens in diesen Erscheinungen und deren Ausläufern die personale Voraussetzung für eine starke jüdische Beteiligung an Revolution und Säkularisation.



[1] Zum Folgenden vgl. Alain Cabantous, Geschichte der Blasphemie (Weimar: H. Böhlaus Nachf., 1999), pp. 11ff.
[2] Zitate bei Cabantous, p. 13.
[3] Vgl. Cabantous, Anhang, pp. 227-231.
[4] Beispieltext hierfür bei Cabantous pp. 233ff, Artikel “Blasphemie”  im Dictionnaire universel ou bibliothèque de l’homme d’état et du citoyen, von Jean-Baptiste Robinet, London 1779.
[5] Siehe Cabantous, pp. 235ff: Erlaß zur Bestrafung von Gotteslästerungen und Ketzereien einschließlich der zu verhängenden Strafen vom 2. Mai 1648, Quelle: Acts and Ordinances of the Interregnum (1642-1660), London 1911, Bd. 1, S. 1133ff.
[6] Vergleiche hierzu neuerdings William M. Schniedewind, How the Bible Became a Book. The Textualization of Ancient Israel (Cambridge: Cambridge University Press, 2004).
[7] Vgl. Häring, Das Gesetz Christi (Freiburg 1954) 704-707, zitiert in meinem Aufsatz “Blasphemie in Staat und Religion, Christentum und Judentum” in tr-deutsch (www.bu.edu/mzank/tr-deutsch/aktuell/Blasphemie.htm).
[8] Vgl. hierzu Moses Mendelssohns Ausführungen in Jerusalem, oder über religiöse Macht und Judentum. Mendelssohn war Zeitgenosse der oben erwähnten Diskussionen um die Reform der Blasphemiegesetzgebung .
[9] Zitiert in “Blasphemie in Staat und Religion, Christentum und Judentum” in tr-deutsch (www.bu.edu/mzank/tr-deutsch/aktuell/Blasphemie.htm).
[10] A.a.O.
[11] Vgl. http://www.mercazharav.org/mizmor19.htm, zitiert in “Blasphemie in Staat und Religion, Christentum und Judentum” in tr-deutsch (www.bu.edu/mzank/tr-deutsch/aktuell/Blasphemie.htm).
[12] Vgl. hierzu M. Zank, “Jüdische Religionsphilosophie als Apologie des Mosaismus” in Archivio di filosofia, 2003, (LXXI) Nr.1-3, pp. 173-182.
[13] Vgl. hierzu das email-responsum A. Seinfelds zum Thema “Hilchos Kiruv Rechokim”, zitiert in “Blasphemie in Staat und Religion, Christentum und Judentum” in tr-deutsch (www.bu.edu/mzank/tr-deutsch/aktuell/Blasphemie.htm).